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Sie legte die Fotografien in den verspiegelten Schrank zurück   Beim Anblick ihres eigenen Körpers  der demjenigen ihrer Mutter glich  fragte sie sich  wie weit dieser in die Vergangenheit reichen konnte  und unternahm Versuche  Atem zu kriegen  während sie ihren Oberkörper im Spiegel musterte und sich der Kleidung entledigte  die sie trug   Der Körper war bleich und geduckt  ihr Blick musterte die eigene Gestalt und wurde vom Wunsch begleitet  sich nicht mehr in unzähligen Einzelteilen wie der Hand  dem Oberkörper  Beinen und Füßen zu begegnen  sondern als Individuum  fähig zur Artikulation   Das Plakat  das viel zu hoch an der Wand hing   Der Computer  den sie nach der Scheidung aus dem Manor durch die Innenstadt trugen  mitsamt den Dokumenten und Fotografien   Das grüne Sofa  das ihr Freund mit seinem besten Kumpel von der Straße  wo er es gefunden hatte  in den fünften Stock hievte  Er sagte  er würde die kaputte Federung reparieren  und tat es nie   Die letzten Tränen im Januar bei Eiseskälte auf Höhe Elisabethstraße  wo sie sich mit der Ludwigstraße kreuzte   Die Schulmappe aus der Grundschule  in der er seine Papiere aus der Universität aufbewahrte   Der orange CD-Player  auf dem sie heimlich Lieder wie Naivna von Ena Popov abspielte   Der kaputte Fernseher  für den es ein bestimmtes Kabel brauchte  das er noch auftreiben würde   Der Glastisch  den sie im Internet ersteigert hatten und für den sie stundenlang im Winter mit dem Bus rausfuhren und der dann viel kleiner als angenommen in einem industriellen Getränkevertrieb stand  Sie nahmen ihn mit  weil sie ihn nicht stehen lassen konnten  Sie sagten  sie würden schon Verwendung dafür finden  und luden den Tisch in den Bus   Der Vater  der Bruder  der Freund   Diese kleinen Verhärtungen  sogenannte Knoten in der Brust   Die Zuversicht   Sie hatte das Studium in  abgeschlossen und war zurückgekehrt  Der Vater  den sie versucht hatte zu vergessen  war nicht gestorben  Die Mutter und den Bruder hatte sie anders vorgefunden  als sie sie zurückgelassen hatte   Drehte sie in Bern den Schlüssel im Schloss um  rief sie zuerst nach ihrem Bruder  Meldete er sich nicht  sah sie ihn bereits im Badezimmer  oder reglos im Bett liegen  sodass sie die Wohnung ablief und erst zur Ruhe kam  sobald sie den Duschvorhang zur Seite schob   Die Jahre  in denen ihr Bruder zu einem jungen Mann herangewachsen war  hatte sie nicht mitbekommen  Er hatte an Gewicht verloren und war traurig geworden  Und mit ihm auch die Mutter  Ihr kaufte sie Pfefferspray  Sie vermied es  bei ihnen zu übernachten  kam doch jedes Mal beim Klingeln die alte Regung  das Schlimmste zu befürchten  zurück   Die Ansichten eines Mannes  der ihr Vater war  verschränkten sich mit den einfachen Verrichtungen des Haushalts  Den Auseinandersetzungen mengte sich der Geruch von Waschmittel bei  Sie spielten sich in den Waschküchen im Keller ab und wurden in Anwesenheit weißer Fliesen im Bad und neben Wiener Würstchen im heißen Wasser des Topfes ausgetragen  Wer draußen mit einer Heckenschere die Büsche schnitt  war doch kein Monster   Hin und wieder hatte ihr Bruder an der Tür geklopft  weil er eine Ladung Wäsche waschen wollte   Ungeachtet aller Störungen und Erinnerungen an ihren Vater  sah sie vor ihrem inneren Auge eine Wiese  das Gras schon schal im Halm  der von der Mitte an gekrümmt  vom Wind in Schieflage geweht wurde  Nahezu trockengebrannt  Wenn sie in die Ferne schaute  hob sie ihr Kinn und runzelte die Stirn  Es war ein Friedhof  Weiße Pflöcke  alte Kindheitserinnerungen   Neben ihr lag ein Tagebuch  und obwohl ihr die Handschrift ihrer Mutter vertraut war  wirkte sie an diesem Tag merkwürdig hart und streng  Seka schrieb am Schreibtisch ihrer Mutter und betrachtete die Schlaufen des »S«  des »M« und »C«  sie waren hochgezogen und stark gewölbt  Sie war umgeben von Ansichtskarten  Stiften und Notizblöcken  auf denen ihre Mutter die obersten Seiten mit Kürzeln versehen hatte  Als Seka sich an die Arbeit setzte und die Handschrift ihrer Mutter zu entziffern und die Namen auf dem Blatt auszuwerten begann und überlegte  wie sie sie zueinander in Beziehung setzen wollte  schielte sie hin und wieder zum Fenster   Das Gras der Wiese  an die sie zurückdachte  war sanfter im Duft als die frisch gemähten Wiesen heute  weniger streng  beinahe lieblich   Die Wiese hier lag an einem leichten Hang  grenzte an die Aare  auf deren Grund das Handy einer Freundin lag  die es in einem Wutanfall in großem Bogen in die Mitte des Flusses geworfen hatte  Die Freundin war an Weihnachten gekommen  von der Nordsee angereist  auf dem Weg nach Spanien  wo sie ihr Jurastudium beenden wollte  Bern hatte sie lediglich ihr Handy und die falschen Haare hinterlassen  die ihr Seka vor dem Fernseher mit der Schere vom Kopf schnitt   Als die grünen Lichter des Innenraumes allmählich erloschen und der Bus hinter einer Kurve verschwand  blieb sie im Wind stehen  Der Busterminal war zugeschneit und Bern zum Zeitpunkt der Abreise ihrer Freundin noch dunkel   Bei Regen  an sonnigen Tagen  wenn Leute spazieren gingen  oder bei großer Kälte im Winter kam sie in regelmäßigen Abständen an der Stelle vorbei  an der die Freundin ihr Handy in den Fluss geworfen hatte  Sie dachte darüber nach  wie sie es auch einfach in den Müll hätte werfen können oder sich entscheiden  es mit den Füßen zu zertreten  Nun lag es auf dem Grund zwischen den Steinen oder war vom Wasser längst fortgetragen worden  Das Ufer war Teil einer Strecke  die sie joggte: durch den Wald zum Fluss und wieder zurück   Vom Wasser rund geschliffene Steine   Weißdornzweige   Sie hatte das Laufen zu lieben gelernt   Als ihr Bruder ins Zimmer kam und fragte  ob sie noch schwarze Sachen für die Wäsche habe  legte sie das Tagebuch und den Laptop beiseite  Ihre Kleidung war von den Haaren des Katers bereits weiß geworden  Seit einigen Monaten war sie wieder zurück in der Schweiz  Sie streckte den Rücken durch und sagte  sie habe bereits gewaschen  fragte ihn  ob er Hunger habe  ging in die Küche und schob eine Pizza in den Ofen   Sie erreichte das Spital kurz vor Schluss der Besuchszeiten  Die Pflegerin erklärte ihr  als sie bereits im dritten Stock stand und das Zimmer ihrer Mutter sah  dass sie umsonst gekommen sei  da ihre Mutter noch unten sei und schlafe  Sie habe die Narkose nicht gut vertragen  würde sich noch ein wenig ausruhen müssen  Erst als Seka versichert wurde  dass es ihrer Mutter ansonsten gutgehe  fuhr sie zurück   Sekas Mutter wurde kurz vor Ramiz’  mit dem Helikopter ins Spital geflogen  Sie hatte im Laufe der Jahre die Schweizer Berge für sich entdeckt und sich auf einer Skitour das Knie verdreht   Wurde es Abend  klopfte ihre Mutter an der Tür und sagte  sie wolle schlafen  Seka saß im Schlafzimmer und tippte auf dem Computer  Nach der Operation  wieder zuhause  lag ihre Mutter tagsüber auf dem Sofa  lagerte das Bein hoch und schaute fern  Morgens beim Frühstück lasen sie einander aus der Zeitung vor und schielten etwas zur Seite  wenn es im Horoskop um Liebe ging  Sie hielt ihrer Mutter  als diese in eine Rehaklinik musste  im Regen den Schirm bis zur Haltestelle und drückte ihr die Hand  als sie spürte  wie sie aus irgendeinem Grund unruhig wurde  Sie begleitete sie zum Arzt und weinte mit ihr  als sie erschöpft war   Im Internet vielfach einsehbar  illustriert in bunten Charts  als Stichwort aufgelistet neben anderen häufigen Begleiterscheinungen dieser sogenannten Kinder  Familien wie beispielsweise »Flucht in die Fantasiewelt« oder »Transgenerationaler Transfer« das Wort »Parentifizierung«   Jeden Abend wünschten sie sich beinahe einstimmig eine »Laku noć«  Mutter und Tochter schliefen wieder im selben Bett  Dreiundvierzig und zweiundzwanzig Jahre alt  Sie lachten auf dieselbe Art und Weise  waren gleich groß  hatten die gleichen Beine und schauten gemeinsam zu dem jungen Mann  der in die Pubertät gekommen war und sie von Zeit zu Zeit anschrie  Sie nahmen es mit Humor   Beide schliefen sie mit offenem Mund  Sobald der Kater an der Tür kratzte  standen sie abwechselnd auf und öffneten ihm die Tür oder füllten seine Schale mit Futter  Beide schrieben sie seit vielen Jahren in ihre Tagebücher  Die Tochter zu Beginn  um die vielen Schulabbrüche zu überstehen  die Mutter auf der Suche nach ihrer Zeit für sich   Seka schrieb über den Körper ihrer Mutter  um ihren eigenen zu sehen   Wurde sie abends müde  nahm sie das Geräusch des Busses in Münsingen  in den sie gestiegen war  nachdem sie ihre Mutter im Spital besucht hatte  und die Kälte beim Warten mit in den Schlaf  Sie wollte den Mann vergessen  der sie mit Blick in ihre Tasche gefragt hatte  wie viele Bücher sie denn mit sich rumtrage  So auch die Fahrt zum Spital  die Luft auf dem Land am Abend  Sie lag im Bett und trug Worte an die Decke  schlug sie weiß auf schwarzen Grund neben die Lampe und drehte sich schließlich auf den Bauch  damit sie verschwanden   Es blieben die gelben Wände des Spitals  das Gespräch mit der Rezeptionistin  das Telefonat mit der Pflegerin  die in eine andere Abteilung funkte  um zu sehen  ob ihre Mutter schon wach war  Ihr verneinender Kopf  sie schlafe noch  Auch die Furcht  dass die Mutter nicht mehr aufwachen würde   Seka streckte sich längs im Bett und spürte ein leichtes Ziehen im unteren Rücken  Sie lag die Rückenschmerzen vom Tragen der Bücher aus   Mutter und Tochter teilten die Erfahrung der Ohnmacht  wenn zur Anzeige dringende Beweise fehlten  Sie kannten den Vater als »«  wie Seka bei Herta Müller lesen würde  Jede für sich  Alleine  Ohne darüber zu sprechen  war dies die Erfahrung  die sie aneinanderband  Es band sie zum einen das Gefühl der Trauer  zum anderen die Wut  die so weit trieb   zu wollen   Werkzeuge des s?  Vielfach fantasiert: eine   ein Messer  die eigenen Hände   Sie teilten auch den Anblick des jungen Mannes in ihrer Wohnung  der daran litt  dass ihm ein Vater fehlte  Er zog sich immer weiter in sein von konvexen Lichtern bestrahltes Zimmer zurück  in seine Games  seine Karten  die er malte  seine Welten  die er baute  bis ihm einfiel  dass er nichts gegessen hatte  Dann kam er raus  Aß etwas  Ging ins Bad  Duschte eine halbe Stunde lang  War der Kummer zu groß  hörte er auf zu essen  und auf die Frage  ob er rauskommen wolle  für einen kurzen Spaziergang in der Sonne  schrie er sie an   Die Tränen in seinen Augen fielen erst auf seine Wangen  als man ihn anschrie  was ihm einfalle  mit seinem  zu drohen   Beide blickten sie auf seinen  und auf den ersten Lack auf seinen Nägeln  Seine Rebellion nahm die violette Farbe des feministischen Widerstandes an und kleidete sich  so erklärte er  in antifaschistischer Mode  In manchen Momenten war er so wütend  dass er zu zittern anfing und seine Hände krampften   Beide sahen den ersten Sticker auf seinem Laptop: »Don’t be  – hate everyone «  Sein Gesicht glich sich demjenigen seines Vaters an  Sein Kiefer wurde kantiger  seine Brauen wurden schärfer  seine Arme stärker   Sein Gesicht glich auch demjenigen von Seka   Diese Spiegelungen  als er sagte  manchmal falle es ihm schwer  draußen zu sein  Menschen zu sehen  deren Leben ihm das Gefühl geben würden  im falschen zu sein   Beim Anblick ihres Bruders  der mit wenig Überzeugung seine Haut der Sonne zeigte und zu lachen anfing  als er die Datei sah und las  welche Namen sie ihrem Vater und Onkel gab  glaubte sie  die Dinge  die sie im Laufe der Arbeit fand  derart hinlegen und verorten zu müssen  sie so zusammenzubauen  dass sie etwas halten würden  sei es auch für ihn  auch wenn er  und das spürte sie ganz deutlich  eines Tages wütend auf sie werden würde  es war fast so  als würde sie es in Kauf nehmen müssen  um zu sehen  was geschieht   Bestenfalls: Genesung  Rehabilitation    Textauszug aus: Mina Hava  Für Seka  Roman  © Suhrkamp Verlag AG  Berlin  2023  Mina Hava (*1998) studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und anschliessend Globalgeschichte und Wissenschaftsforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich  Während des Studiums begann sie mit der Recherche- und Schreibarbeit für ihren Debütroman Für Seka  der im April 2023 im Suhrkamp Verlag erschienen ist  In ihrem Debütroman stellt sich Mina Hava dem Bosnienkrieg und spürt den Beziehungen zwischen der Schweiz und Ex-Jugoslawien nach 

Übrig geblieben sind ihr nur ein Briefumschlag mit einer Handvoll Fotografien und die Angst vor dem Vater, die Sorge um ihre Mutter und ihren Bruder, die Knoten in ihrer Brust. Seka sucht mit Anfang zwanzig nach den Spuren ihrer zerbrochenen Familie und ihres bisherigen Lebens. Sie rekonstruiert den Weg ihrer Eltern aus Bosnien in die Schweiz und fragt nach den Verbindungen, den Fäden zu ihr.  Mina Hava verknüpft in ihrem Debütroman historisches Material, Recherche- und Rekonstruktionsarbeit mit persönlichen Erfahrungen, Verlusten und Ängsten – und beleuchtet, was Geschichte bedeutet für Landschaften und Körper. Sensibel erzählt Für Seka ein junges Leben, in dem das Politische und das Persönliche untrennbar verbunden sind, eine Geschichte vom Verlassen und Verlassenwerden und von der Frage, was war.In diesem Auszug aus dem Roman Für Seka begegnet die Protagonistin sich selbst in Spiegelbildern ihrer Familie.

Sie legte die Fotografien in den verspiegelten Schrank zurück. Beim Anblick ihres eigenen Körpers, der demjenigen ihrer Mutter glich, fragte sie sich, wie weit dieser in die Vergangenheit reichen konnte, und unternahm Versuche, Atem zu kriegen, während sie ihren Oberkörper im Spiegel musterte und sich der Kleidung entledigte, die sie trug. Der Körper war bleich und geduckt, ihr Blick musterte die eigene Gestalt und wurde vom Wunsch begleitet, sich nicht mehr in unzähligen Einzelteilen wie der Hand, dem Oberkörper, Beinen und Füßen zu begegnen, sondern als Individuum, fähig zur Artikulation. Das Plakat, das viel zu hoch an der Wand hing. Der Computer, den sie nach der Scheidung aus dem Manor durch die Innenstadt trugen, mitsamt den Dokumenten und Fotografien. Das grüne Sofa, das ihr Freund mit seinem besten Kumpel von der Straße, wo er es gefunden hatte, in den fünften Stock hievte. Er sagte, er würde die kaputte Federung reparieren, und tat es nie. Die letzten Tränen im Januar bei Eiseskälte auf Höhe Elisabethstraße, wo sie sich mit der Ludwigstraße kreuzte. Die Schulmappe aus der Grundschule, in der er seine Papiere aus der Universität aufbewahrte. Der orange CD-Player, auf dem sie heimlich Lieder wie Naivna von Ena Popov abspielte. Der kaputte Fernseher, für den es ein bestimmtes Kabel brauchte, das er noch auftreiben würde. Der Glastisch, den sie im Internet ersteigert hatten und für den sie stundenlang im Winter mit dem Bus rausfuhren und der dann viel kleiner als angenommen in einem industriellen Getränkevertrieb stand. Sie nahmen ihn mit, weil sie ihn nicht stehen lassen konnten. Sie sagten, sie würden schon Verwendung dafür finden, und luden den Tisch in den Bus. Der Vater, der Bruder, der Freund. Diese kleinen Verhärtungen, sogenannte Knoten in der Brust. Die Zuversicht. Sie hatte das Studium in Deutschland abgeschlossen und war zurückgekehrt. Der Vater, den sie versucht hatte zu vergessen, war nicht gestorben. Die Mutter und den Bruder hatte sie anders vorgefunden, als sie sie zurückgelassen hatte. Drehte sie in Bern den Schlüssel im Schloss um, rief sie zuerst nach ihrem Bruder. Meldete er sich nicht, sah sie ihn bereits im Badezimmer erhängt oder reglos im Bett liegen, sodass sie die Wohnung ablief und erst zur Ruhe kam, sobald sie den Duschvorhang zur Seite schob. Die Jahre, in denen ihr Bruder zu einem jungen Mann herangewachsen war, hatte sie nicht mitbekommen. Er hatte an Gewicht verloren und war traurig geworden. Und mit ihm auch die Mutter. Ihr kaufte sie Pfefferspray. Sie vermied es, bei ihnen zu übernachten, kam doch jedes Mal beim Klingeln die alte Regung, das Schlimmste zu befürchten, zurück. Die Ansichten eines Mannes, der ihr Vater war, verschränkten sich mit den einfachen Verrichtungen des Haushalts. Den Auseinandersetzungen mengte sich der Geruch von Waschmittel bei. Sie spielten sich in den Waschküchen im Keller ab und wurden in Anwesenheit weißer Fliesen im Bad und neben Wiener Würstchen im heißen Wasser des Topfes ausgetragen. Wer draußen mit einer Heckenschere die Büsche schnitt, war doch kein Monster. Hin und wieder hatte ihr Bruder an der Tür geklopft, weil er eine Ladung Wäsche waschen wollte. Ungeachtet aller Störungen und Erinnerungen an ihren Vater, sah sie vor ihrem inneren Auge eine Wiese, das Gras schon schal im Halm, der von der Mitte an gekrümmt, vom Wind in Schieflage geweht wurde. Nahezu trockengebrannt. Wenn sie in die Ferne schaute, hob sie ihr Kinn und runzelte die Stirn. Es war ein Friedhof. Weiße Pflöcke, alte Kindheitserinnerungen. Neben ihr lag ein Tagebuch, und obwohl ihr die Handschrift ihrer Mutter vertraut war, wirkte sie an diesem Tag merkwürdig hart und streng. Seka schrieb am Schreibtisch ihrer Mutter und betrachtete die Schlaufen des »S«, des »M« und »C«, sie waren hochgezogen und stark gewölbt. Sie war umgeben von Ansichtskarten, Stiften und Notizblöcken, auf denen ihre Mutter die obersten Seiten mit Kürzeln versehen hatte. Als Seka sich an die Arbeit setzte und die Handschrift ihrer Mutter zu entziffern und die Namen auf dem Blatt auszuwerten begann und überlegte, wie sie sie zueinander in Beziehung setzen wollte, schielte sie hin und wieder zum Fenster. Das Gras der Wiese, an die sie zurückdachte, war sanfter im Duft als die frisch gemähten Wiesen heute, weniger streng, beinahe lieblich. Die Wiese hier lag an einem leichten Hang, grenzte an die Aare, auf deren Grund das Handy einer Freundin lag, die es in einem Wutanfall in großem Bogen in die Mitte des Flusses geworfen hatte. Die Freundin war an Weihnachten gekommen, von der Nordsee angereist, auf dem Weg nach Spanien, wo sie ihr Jurastudium beenden wollte. Bern hatte sie lediglich ihr Handy und die falschen Haare hinterlassen, die ihr Seka vor dem Fernseher mit der Schere vom Kopf schnitt. Als die grünen Lichter des Innenraumes allmählich erloschen und der Bus hinter einer Kurve verschwand, blieb sie im Wind stehen. Der Busterminal war zugeschneit und Bern zum Zeitpunkt der Abreise ihrer Freundin noch dunkel. Bei Regen, an sonnigen Tagen, wenn Leute spazieren gingen, oder bei großer Kälte im Winter kam sie in regelmäßigen Abständen an der Stelle vorbei, an der die Freundin ihr Handy in den Fluss geworfen hatte. Sie dachte darüber nach, wie sie es auch einfach in den Müll hätte werfen können oder sich entscheiden, es mit den Füßen zu zertreten. Nun lag es auf dem Grund zwischen den Steinen oder war vom Wasser längst fortgetragen worden. Das Ufer war Teil einer Strecke, die sie joggte: durch den Wald zum Fluss und wieder zurück. Vom Wasser rund geschliffene Steine. Weißdornzweige. Sie hatte das Laufen zu lieben gelernt. Als ihr Bruder ins Zimmer kam und fragte, ob sie noch schwarze Sachen für die Wäsche habe, legte sie das Tagebuch und den Laptop beiseite. Ihre Kleidung war von den Haaren des Katers bereits weiß geworden. Seit einigen Monaten war sie wieder zurück in der Schweiz. Sie streckte den Rücken durch und sagte, sie habe bereits gewaschen, fragte ihn, ob er Hunger habe, ging in die Küche und schob eine Pizza in den Ofen. Sie erreichte das Spital kurz vor Schluss der Besuchszeiten. Die Pflegerin erklärte ihr, als sie bereits im dritten Stock stand und das Zimmer ihrer Mutter sah, dass sie umsonst gekommen sei, da ihre Mutter noch unten sei und schlafe. Sie habe die Narkose nicht gut vertragen, würde sich noch ein wenig ausruhen müssen. Erst als Seka versichert wurde, dass es ihrer Mutter ansonsten gutgehe, fuhr sie zurück. Sekas Mutter wurde kurz vor Ramiz’ Tod mit dem Helikopter ins Spital geflogen. Sie hatte im Laufe der Jahre die Schweizer Berge für sich entdeckt und sich auf einer Skitour das Knie verdreht. Wurde es Abend, klopfte ihre Mutter an der Tür und sagte, sie wolle schlafen. Seka saß im Schlafzimmer und tippte auf dem Computer. Nach der Operation, wieder zuhause, lag ihre Mutter tagsüber auf dem Sofa, lagerte das Bein hoch und schaute fern. Morgens beim Frühstück lasen sie einander aus der Zeitung vor und schielten etwas zur Seite, wenn es im Horoskop um Liebe ging. Sie hielt ihrer Mutter, als diese in eine Rehaklinik musste, im Regen den Schirm bis zur Haltestelle und drückte ihr die Hand, als sie spürte, wie sie aus irgendeinem Grund unruhig wurde. Sie begleitete sie zum Arzt und weinte mit ihr, als sie erschöpft war. Im Internet vielfach einsehbar, illustriert in bunten Charts, als Stichwort aufgelistet neben anderen häufigen Begleiterscheinungen dieser sogenannten Kinder migrantischer Familien wie beispielsweise »Flucht in die Fantasiewelt« oder »Transgenerationaler Transfer« das Wort »Parentifizierung«. Jeden Abend wünschten sie sich beinahe einstimmig eine »Laku noć«. Mutter und Tochter schliefen wieder im selben Bett. Dreiundvierzig und zweiundzwanzig Jahre alt. Sie lachten auf dieselbe Art und Weise, waren gleich groß, hatten die gleichen Beine und schauten gemeinsam zu dem jungen Mann, der in die Pubertät gekommen war und sie von Zeit zu Zeit anschrie. Sie nahmen es mit Humor. Beide schliefen sie mit offenem Mund. Sobald der Kater an der Tür kratzte, standen sie abwechselnd auf und öffneten ihm die Tür oder füllten seine Schale mit Futter. Beide schrieben sie seit vielen Jahren in ihre Tagebücher. Die Tochter zu Beginn, um die vielen Schulabbrüche zu überstehen, die Mutter auf der Suche nach ihrer Zeit für sich. Seka schrieb über den Körper ihrer Mutter, um ihren eigenen zu sehen. Wurde sie abends müde, nahm sie das Geräusch des Busses in Münsingen, in den sie gestiegen war, nachdem sie ihre Mutter im Spital besucht hatte, und die Kälte beim Warten mit in den Schlaf. Sie wollte den Mann vergessen, der sie mit Blick in ihre Tasche gefragt hatte, wie viele Bücher sie denn mit sich rumtrage. So auch die Fahrt zum Spital, die Luft auf dem Land am Abend. Sie lag im Bett und trug Worte an die Decke, schlug sie weiß auf schwarzen Grund neben die Lampe und drehte sich schließlich auf den Bauch, damit sie verschwanden. Es blieben die gelben Wände des Spitals, das Gespräch mit der Rezeptionistin, das Telefonat mit der Pflegerin, die in eine andere Abteilung funkte, um zu sehen, ob ihre Mutter schon wach war. Ihr verneinender Kopf, sie schlafe noch. Auch die Furcht, dass die Mutter nicht mehr aufwachen würde. Seka streckte sich längs im Bett und spürte ein leichtes Ziehen im unteren Rücken. Sie lag die Rückenschmerzen vom Tragen der Bücher aus. Mutter und Tochter teilten die Erfahrung der Ohnmacht, wenn zur Anzeige dringende Beweise fehlten. Sie kannten den Vater als »Gewaltorgan«, wie Seka bei Herta Müller lesen würde. Jede für sich. Alleine. Ohne darüber zu sprechen, war dies die Erfahrung, die sie aneinanderband. Es band sie zum einen das Gefühl der Trauer, zum anderen die Wut, die so weit trieb, töten zu wollen. Werkzeuge des Tötens? Vielfach fantasiert: eine Pistole, ein Messer, die eigenen Hände. Sie teilten auch den Anblick des jungen Mannes in ihrer Wohnung, der daran litt, dass ihm ein Vater fehlte. Er zog sich immer weiter in sein von konvexen Lichtern bestrahltes Zimmer zurück, in seine Games, seine Karten, die er malte, seine Welten, die er baute, bis ihm einfiel, dass er nichts gegessen hatte. Dann kam er raus. Aß etwas. Ging ins Bad. Duschte eine halbe Stunde lang. War der Kummer zu groß, hörte er auf zu essen, und auf die Frage, ob er rauskommen wolle, für einen kurzen Spaziergang in der Sonne, schrie er sie an. Die Tränen in seinen Augen fielen erst auf seine Wangen, als man ihn anschrie, was ihm einfalle, mit seinem Suizid zu drohen. Beide blickten sie auf seinen Irokesen und auf den ersten Lack auf seinen Nägeln. Seine Rebellion nahm die violette Farbe des feministischen Widerstandes an und kleidete sich, so erklärte er, in antifaschistischer Mode. In manchen Momenten war er so wütend, dass er zu zittern anfing und seine Hände krampften. Beide sahen den ersten Sticker auf seinem Laptop: »Don’t be racist – hate everyone.« Sein Gesicht glich sich demjenigen seines Vaters an. Sein Kiefer wurde kantiger, seine Brauen wurden schärfer, seine Arme stärker. Sein Gesicht glich auch demjenigen von Seka. Diese Spiegelungen, als er sagte, manchmal falle es ihm schwer, draußen zu sein, Menschen zu sehen, deren Leben ihm das Gefühl geben würden, im falschen zu sein. Beim Anblick ihres Bruders, der mit wenig Überzeugung seine Haut der Sonne zeigte und zu lachen anfing, als er die Datei sah und las, welche Namen sie ihrem Vater und Onkel gab, glaubte sie, die Dinge, die sie im Laufe der Arbeit fand, derart hinlegen und verorten zu müssen, sie so zusammenzubauen, dass sie etwas halten würden, sei es auch für ihn, auch wenn er, und das spürte sie ganz deutlich, eines Tages wütend auf sie werden würde, es war fast so, als würde sie es in Kauf nehmen müssen, um zu sehen, was geschieht. Bestenfalls: Genesung, Rehabilitation.

Textauszug aus: Mina Hava, Für Seka. Roman. © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023.

Mina Hava (*1998) studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und anschliessend Globalgeschichte und Wissenschaftsforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Während des Studiums begann sie mit der Recherche- und Schreibarbeit für ihren Debütroman Für Seka, der im April 2023 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. In ihrem Debütroman stellt sich Mina Hava dem Bosnienkrieg und spürt den Beziehungen zwischen der Schweiz und Ex-Jugoslawien nach.

Mina Hava

Für Seka

Si  somos Si  somos Si  estamos Si  existimos     Somos personas detrás de un sueño     Con sentimientos  anhelos y deseos Con miedos  frustraciones  inseguridades  Lejos de la perfección     Humanxs como tu     Con el deseo de cambiar nuestras posibilidades para tener una mejor calidad de vida  Consientes de lo mucho que podemos aportar a nuestro entorno El valor de una persona no se mide por encasillamientos sociales  políticos  o un papel     La magia que trae la valentía de ser alguien lo suficientemente fuerte para dejar todo atrás y empezar de nuevo en un lugar donde «no existimos» nos hace guerrerxs anónimxs que buscan ser de aquí  sin dejar de ser de allá     Ja  wir sind Ja  wir sind Ja  wir sind da Ja  wir existieren     Wir sind Menschen  die hinter einem Traum stehen     Mit Gefühlen  Sehnsüchten und Wünschen Mit Ängsten  Frustrationen  Unsicherheiten  Weit entfernt von Perfektion     Wir sind Menschen wie Du     Mit dem Wunsch  unsere Möglichkeiten für eine bessere Lebensqualität zu verändern  Im Bewusstsein darum  wie viel wir zu unserer Umwelt beitragen können  Der Wert eines Menschen wird nicht durch eine soziale oder politische Schublade oder ein Dokument bestimmt     Die Magie  die Mut macht  eine Person zu sein  die stark genug ist  alles hinter sich zu lassen und neu anzufangen  an einem Ort  an dem wir «nicht existieren»  macht uns zu anonymen Krieger:innen  die versuchen  von hier zu sein  ohne aufzuhören  von dort zu sein     Zur Entstehung: Was bedeutet es für dich  Sans-Papiers zu sein? Diese Frage wurde allen Mitgliedern der Sans-Papiers-Kollektive gestellt  mit der Bitte um einen Beitrag für das Buch  Das Gedicht von Carlina Torres ist ihre Antwort auf diese Frage  Wenn ich gross bin  werde ich Astronautin – Wenn ich gross bin  werde ich legal Erinnerst du dich daran  wie du dir als Kind dein Leben vorgestellt hast? Was war deine Antwort  wenn die Erwachsenen dich fragten  was du mal werden willst  wenn du «gross» bist? Erinnerst du dich  wie leicht  wie offen  wie unendlich und weit sich die Zukunft anfühlte? Erinnerst du dich daran  wie diese Unendlichkeit an Möglichkeiten sich während des Älterwerdens allmählich in einer engeren Auswahl konzentrierte und sich da so was wie dein Lebensweg in Zeit und Raum zu manifestieren begann? Und wie – ganz plötzlich – ab einem bestimmten Zeitpunkt  an dem du erwachsen genug warst  um auf eine gewisse Zeit hinter deiner Gegenwart zurückzublicken  dort  hinter dir  erstaunlicherweise nur ein einziger gegangener Weg lag? Was ist aus den anderen geworden? Warum bist du gerade auf diesem Weg gelandet? Bist du denn jetzt schon «gross»?  Kannst du dich daran erinnern  wann die Realität und die Welt angefangen haben  deinen Möglichkeiten Schranken und Grenzen zu setzen? Hast du es geschafft  sie allesamt niederzureissen? Oder haben sie dich niedergerissen? Oder vielleicht etwas dazwischen? Hast du dir deine Träume bewahren können? Lebst du sie? Lass uns über Träume reden! Zur Entstehung: In der Redaktionsgruppe wurde diskutiert  wie über das grosse Thema Migration gesprochen werden soll  Das Gespräch wurde aufgezeichnet  Anhand dieser Audioaufnahmen verfasste Claudia Berger diesen Text  Er wurde in der Redaktionsgruppebesprochen  Fragebogen für die Leser:innen Wer sind wir? Wie definieren wir uns? Welche Aspekte beeinflussen unser Leben und wie es verläuft? Sind wir die Summe unendlich vieler Wege  die sich kreuzen  verflechten  kollidieren  vereinen oder trennen? Wie steht es um die Gleichwertigkeit unserer Erfahrungen und Entscheidungen – gibt es richtig oder falsch? Ungleiche Welten und Realitäten treffen zur gleichen Zeit  in verschiedenen Räumen  in verschiedenen Köpfen und Herzen aufeinander   Letztendlich besitzen wir alle eine ähnliche Zerbrechlichkeit  die uns zu sensiblen und unvollkommenen Menschen in ständigem Wandel und Wachstum macht  gleich und verschieden zugleich  Das Leben ist ein Hauch von transzendentaler Intensität  die uns chaotisch definiert und irgendwo zurücklässt  Es lehrt uns die Kunst  uns selbst neu zu erfinden  auf der ständigen Suche nach einem gewissen Gleichgewicht in unserer unvollkommenen und wilden Natur  Vielleicht fragen Sie sich auch:  Wo sind Sie gerade? Und warum sind Sie genau da? Was bringt Sie dazu  zu bleiben  was würde Sie dazu bringen  zu gehen? Wer sind Sie wirklich? Was hat Sie zu der Person gemacht  die Sie sind? Was hoffen Sie zu werden? Sind Sie das  wovon Sie geträumt haben? Würden Sie etwas an Ihrem Leben ändern? Wie würden Sie Glück definieren oder was bedeutet es für Sie  glücklich zu sein? Welche(n) Moment(e) in Ihrem Leben würden Sie als den/die besten und erfüllendsten bezeichnen? Sind Sie zufrieden mit den Entscheidungen  die Sie in bedeutenden Momenten Ihres Lebens getroffen haben? Reisen Sie gerne? Was war die weiteste und längste Reise  die Sie unternommen haben? Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem Leben gemacht? Was ist Ihr Lieblingsessen? Was ist Ihr Lieblingsort? Wer ist Ihr Lieblingsmensch? Vermissen Sie jetzt im Moment jemanden? Wie lange sind Sie schon von der Person getrennt  die Sie am meisten lieben? Sind Sie der Meinung  dass Sie ein erfolgreiches Leben führen? Was bedeutet Erfolg für Sie? Was ist die grösste Errungenschaft Ihres Lebens? Wie beurteilen Sie Ihren Lebensstandard  Ihren Fortschritt und Ihre Erfolgsaussichten? War es jedes  und jede harte Arbeit wert  Ihre Träume zu verwirklichen? Haben Sie dieselben Träume wie vor einigen Jahren? Was ist Ihre liebste Tageszeit? Was ist für Sie ein ganz besonderer Anlass? Kennen Sie Angst und Unsicherheit? Was bedeutet es für Sie  mutig zu sein? Waren Sie jemals mutig? Wie oft weinen Sie? Wie oft ruhen Sie sich aus? Was bringt Sie zum Lächeln? Haben Sie Spass? Haben Sie ein Hobby? Treiben Sie Sport? Arbeiten Sie oder studieren Sie? Oder arbeiten Sie und studieren Sie? Warum haben Sie studiert? Oder: Warum haben Sie es nicht getan? Arbeiten Sie auf dem Beruf  den Sie mögen? Was wäre Ihr idealer Beruf? Kennen Sie Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliche Stagnation  finanzielle Not oder Armut? Haben Sie schon einmal jemandem geholfen  als er es am meisten brauchte? Haben Sie Hilfe oder Solidarität erhalten  als Sie sie brauchten? Wie weit würden Sie gehen  um Ihr Glück und Ihr Wohlbefinden zu erreichen? Oder was wären Sie bereit  dafür zu tun? Haben Sie schon einmal daran gedacht  dass Sie wegen Chancenungleichheit oder dem Mangel an Chancen Ihr Land verlassen und alle Ihre Lieben zurücklassen müssten? Haben Sie schon einmal einen Mangel an Essen in Ihrem Haushalt erlebt? Hätten Sie den Mut  Ihr Land auf der Suche nach einem besseren Leben zu verlassen? Halten Sie sich für mutig? Was ist das grösste Risiko  das Sie je in Ihrem Leben eingegangen sind? Wie weit würden Sie gehen  um die Menschen zu schützen  die Sie lieben  insbesondere Ihre Familie? Mussten Sie schon einmal lügen  um sich zu schützen? Haben Sie sich verliebt? Wurden Sie betrogen  enttäuscht oder hatten Liebeskummer? Ist eine Beziehung zwischen Ländern und Personen mit völlig unterschiedlichen Kulturen möglich? Wurden Sie schon einmal gehänselt oder   weil Sie in einer fremden Sprache nicht gut oder falsch sprechen? Fühlen Sie sich wie ein vollendeter  erfüllter Mensch? Wenn ja  auf welcher Grundlage haben Sie dies Ihrer Meinung nach erreicht? Wo leben Sie? Erhalten Sie Unterstützung von Ihrem Land? Gründet alles auf Ihrer eigenen Leistung? Zur Entstehung: Tania Bicalho und Carlina Torres überlegten zusammen  mit welchen Fragen bei der Leser:innenschaft ein Perspektivenwechsel erreicht werden könnte  An einem kollektiven Buchtag im Juni 2021 legten sie ein grosses Papier aus  Alle Beteiligten konnten dort ihre Fragen an die Leser:innen notieren  Nach einem weiteren intensiven Brainstorming schrieben Tania und Carlina daraus den Text  Le «Pas»-ragraphe Pas de papiers Pas de vie Pas de travail Pas de place pour parler Pas parler j’ai peur de parler sans papiers Pas crier Pas pleurer Pas de place pour ça Pas de Bewilligung ça va pas Pas vraiment ta vie – à toi Pas facile c’est difficile Pas d’appartement Pas de compte bancaire (et ils me disent :) je ne comprends pas  comme ça ? quoi ? comment ?! pas seize je ne 16 pas pas récupérer des années perdues pas de droit d'aimer et le pire «pas» c’est pas rentrer («chez nous  en Afrique») pas partir pas rester pas passer que t’es une étrangère tu ne peux pas pas marier pas de famille pas des enfants si tu n’es pas indépendant (wenn du nicht eigenständig bist) (bist du 0 – zéro – nichts»)   pas  Kein Abschnitt Kein Abschnitt Keine Papiere Kein Leben Keine Arbeit Kein Platz um zu sprechen Kein Sprechen Ich habe Angst  ohne Papiere zu sprechen Kein Schreien Kein Weinen Kein Raum dafür Keine Bewilligung das geht nicht Nicht wirklich dein Leben – für dich Nicht einfach es ist schwierig Keine Wohnung Kein Bankkonto (und sie sagen mir:) ich verstehe nicht  so? Was? Wie?! Keine sechzehn Ich weiss es nicht Keine verlorenen Jahre zurückbekommen Kein Recht auf Liebe und das schlimmste «Kein» ist Kein Zurückkehren («nach Hause  in Afrika») Kein Fortgehen Kein Bleiben Kein Durchgehen dass du eine Fremde bist du kannst nicht Keine Heirat Keine Familie Keine Kinder wenn du nicht eigenständig (wenn du nicht eigenständig bist) (bist du 0 - null - nichts)   bist du nicht  Zur Erstellung: Was bedeutet es  Sans-Papiers zu sein? Zu dieser Frage trafen sich Chanceline Ndongo  Angeline Mewoulou Essama  Marie Sani und Peti Rota zweimal  Peti hörte vor allem zu  Das Gespräch fand auf Französisch statt  wurde aufgenommen und komplett von Peti transkribiert  In einem zweiten Schritt schrieb Peti aus dem Transkript  aber auch aus dem Gehörten das Gedicht  Der Text wurde mit den drei Gesprächsteilnehmerinnen und der Redaktionsgruppe diskutiert  Die Gemeinschaft auf der Insel Das Leben für uns war damals  wie wenn wir auf einer einsamen Insel gestrandet wären  Ein unendliches Unwetter auf einer einsamen Insel ist vergleichbar damit  obdachlos  hungrig oder alleine zu sein  Denn diese Gefühle sind für uns nicht selten  Wir treffen täglich auf   Diskriminierung und grundlose Gewalt  so wie Inselbewohner:innen auf gefährliche Raubtiere stossen  Doch das Gefühl  eine warme Höhle zu finden  die Sicherheit bietet  ist unbeschreiblich erleichternd  Ungefähr so fühlt es sich an  den Sans-Papier-Kollektiven beizutreten  Langsam finden sich Menschen in dieser Höhle zusammen  Sie fangen an  sich gegenseitig zu beschützen  zu helfen und zu unterstützen  Das Wichtigste ist  dass wir uns nicht für selbstverständlich nehmen  Wir schätzen die Hilfe der anderen jeden Tag aufs Neue  Ein Teil der Sans-Papier-Kollektive zu sein  bedeutet Teil dieser Gemeinschaft zu sein  Gemeinsam sind wir stark  Zur Entstehung: Was bedeutet für dich Solidarität und Aktivismus? Diese Frage wurde den Koordinationspersonen der Sans-Papiers-Kollektive gestellt  Timur Tumurs Antwort darauf war dieses Gedicht  Textauszug aus: Sans-Papiers-Kollektive  Von der Kraft des Durchhaltens  © edition 8  2023  Die Sans-Papiers-Kollektive sind die Selbstorganisation der Sans-Papiers in Basel  Gemeinsam kämpfen sie dafür  regularisiert zu werden  und haben in einem einmaligen kollektiven Schreibprozess mit über 80 Mitwirkenden das Buch Von der Kraft des Durchhaltens (edition 8  2023) herausgegeben 

„Wir sind Sans-Papiers, und ihr kennt unsere Stimmen nicht. Eure Strassen sind unsere Strassen. Wir atmen die gleiche Luft und können doch oft nicht zusammen sprechen. Rechtliche Kategorien unterteilen uns in wir und ihr. Sie machen uns unsichtbar und ungehört, drängen uns in den Schatten. Aus dieser Position heraus ist es nicht leicht, die Stimme zu erheben und sie frei an euch zu richten. Mit diesem Buch möchten wir mit euch in einen Dialog treten. Wir möchten euch einen Perspektivenwechsel ermöglichen, euch dazu einladen, uns zu sehen, uns zuzuhören und uns besser kennenzulernen. Gleichzeitig richten wir uns an alle anderen Sans-Papiers. Seid mutig, schliesst euch zusammen, ihr seid nicht allein. Wir sind viele.“Das Buch Von der Kraft des Durchhaltens versammelt Texte von über 80 Mitwirkenden: Lebensgeschichten, Hintergrundinformationen, literarisch und lyrisch Texte, die in kollektiven Prozessen entstanden sind. Dort erhält ein Wir eine Stimme, das sonst oft ungehört bleibt: Personen ohne Papiere, denen die rechtliche Grundlage fehlt, um aktiver Teil der Gesellschaft zu sein, in der sie leben. Die folgenden Ausschnitte geben einen kleinen Einblick in das Buch, das sich als Einladung versteht: „Lernt uns kennen, hört uns zu, seht hin.“

Si, somos Si, estamos Si, existimos ... Somos personas detrás de un sueño ... Con sentimientos, anhelos y deseos Con miedos, frustraciones, inseguridades, Lejos de la perfección ... Humanxs como tu ... Con el deseo de cambiar nuestras posibilidades para tener una mejor calidad de vida, Consientes de lo mucho que podemos aportar a nuestro entorno El valor de una persona no se mide por encasillamientos sociales, políticos, o un papel ... La magia que trae la valentía de ser alguien lo suficientemente fuerte para dejar todo atrás y empezar de nuevo en un lugar donde «no existimos» nos hace guerrerxs anónimxs que buscan ser de aquí, sin dejar de ser de allá ...

Ja, wir sind Ja, wir sind da Ja, wir existieren ... Wir sind Menschen, die hinter einem Traum stehen ... Mit Gefühlen, Sehnsüchten und Wünschen Mit Ängsten, Frustrationen, Unsicherheiten, Weit entfernt von Perfektion ... Wir sind Menschen wie Du ... Mit dem Wunsch, unsere Möglichkeiten für eine bessere Lebensqualität zu verändern, Im Bewusstsein darum, wie viel wir zu unserer Umwelt beitragen können. Der Wert eines Menschen wird nicht durch eine soziale oder politische Schublade oder ein Dokument bestimmt ... Die Magie, die Mut macht, eine Person zu sein, die stark genug ist, alles hinter sich zu lassen und neu anzufangen, an einem Ort, an dem wir «nicht existieren», macht uns zu anonymen Krieger:innen, die versuchen, von hier zu sein, ohne aufzuhören, von dort zu sein ...

Zur Entstehung: Was bedeutet es für dich, Sans-Papiers zu sein? Diese Frage wurde allen Mitgliedern der Sans-Papiers-Kollektive gestellt, mit der Bitte um einen Beitrag für das Buch. Das Gedicht von Carlina Torres ist ihre Antwort auf diese Frage.

Wenn ich gross bin, werde ich Astronautin – Wenn ich gross bin, werde ich legal

Erinnerst du dich daran, wie du dir als Kind dein Leben vorgestellt hast? Was war deine Antwort, wenn die Erwachsenen dich fragten, was du mal werden willst, wenn du «gross» bist? Erinnerst du dich, wie leicht, wie offen, wie unendlich und weit sich die Zukunft anfühlte? Erinnerst du dich daran, wie diese Unendlichkeit an Möglichkeiten sich während des Älterwerdens allmählich in einer engeren Auswahl konzentrierte und sich da so was wie dein Lebensweg in Zeit und Raum zu manifestieren begann? Und wie – ganz plötzlich – ab einem bestimmten Zeitpunkt, an dem du erwachsen genug warst, um auf eine gewisse Zeit hinter deiner Gegenwart zurückzublicken, dort, hinter dir, erstaunlicherweise nur ein einziger gegangener Weg lag? Was ist aus den anderen geworden? Warum bist du gerade auf diesem Weg gelandet? Bist du denn jetzt schon «gross»? Kannst du dich daran erinnern, wann die Realität und die Welt angefangen haben, deinen Möglichkeiten Schranken und Grenzen zu setzen? Hast du es geschafft, sie allesamt niederzureissen? Oder haben sie dich niedergerissen? Oder vielleicht etwas dazwischen? Hast du dir deine Träume bewahren können? Lebst du sie? Lass uns über Träume reden!

Zur Entstehung: In der Redaktionsgruppe wurde diskutiert, wie über das grosse Thema Migration gesprochen werden soll. Das Gespräch wurde aufgezeichnet. Anhand dieser Audioaufnahmen verfasste Claudia Berger diesen Text. Er wurde in der Redaktionsgruppebesprochen.

Wer sind wir? Wie definieren wir uns? Welche Aspekte beeinflussen unser Leben und wie es verläuft? Sind wir die Summe unendlich vieler Wege, die sich kreuzen, verflechten, kollidieren, vereinen oder trennen? Wie steht es um die Gleichwertigkeit unserer Erfahrungen und Entscheidungen – gibt es richtig oder falsch? Ungleiche Welten und Realitäten treffen zur gleichen Zeit, in verschiedenen Räumen, in verschiedenen Köpfen und Herzen aufeinander. Letztendlich besitzen wir alle eine ähnliche Zerbrechlichkeit, die uns zu sensiblen und unvollkommenen Menschen in ständigem Wandel und Wachstum macht; gleich und verschieden zugleich. Das Leben ist ein Hauch von transzendentaler Intensität, die uns chaotisch definiert und irgendwo zurücklässt. Es lehrt uns die Kunst, uns selbst neu zu erfinden, auf der ständigen Suche nach einem gewissen Gleichgewicht in unserer unvollkommenen und wilden Natur.

Vielleicht fragen Sie sich auch: Wo sind Sie gerade? Und warum sind Sie genau da? Was bringt Sie dazu, zu bleiben; was würde Sie dazu bringen, zu gehen? Wer sind Sie wirklich? Was hat Sie zu der Person gemacht, die Sie sind? Was hoffen Sie zu werden? Sind Sie das, wovon Sie geträumt haben? Würden Sie etwas an Ihrem Leben ändern? Wie würden Sie Glück definieren oder was bedeutet es für Sie, glücklich zu sein? Welche(n) Moment(e) in Ihrem Leben würden Sie als den/die besten und erfüllendsten bezeichnen? Sind Sie zufrieden mit den Entscheidungen, die Sie in bedeutenden Momenten Ihres Lebens getroffen haben? Reisen Sie gerne? Was war die weiteste und längste Reise, die Sie unternommen haben? Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem Leben gemacht? Was ist Ihr Lieblingsessen? Was ist Ihr Lieblingsort? Wer ist Ihr Lieblingsmensch? Vermissen Sie jetzt im Moment jemanden? Wie lange sind Sie schon von der Person getrennt, die Sie am meisten lieben? Sind Sie der Meinung, dass Sie ein erfolgreiches Leben führen? Was bedeutet Erfolg für Sie? Was ist die grösste Errungenschaft Ihres Lebens? Wie beurteilen Sie Ihren Lebensstandard, Ihren Fortschritt und Ihre Erfolgsaussichten? War es jedes Opfer und jede harte Arbeit wert, Ihre Träume zu verwirklichen? Haben Sie dieselben Träume wie vor einigen Jahren? Was ist Ihre liebste Tageszeit? Was ist für Sie ein ganz besonderer Anlass? Kennen Sie Angst und Unsicherheit? Was bedeutet es für Sie, mutig zu sein? Waren Sie jemals mutig? Wie oft weinen Sie? Wie oft ruhen Sie sich aus? Was bringt Sie zum Lächeln? Haben Sie Spass? Haben Sie ein Hobby? Treiben Sie Sport? Arbeiten Sie oder studieren Sie? Oder arbeiten Sie und studieren Sie? Warum haben Sie studiert? Oder: Warum haben Sie es nicht getan? Arbeiten Sie auf dem Beruf, den Sie mögen? Was wäre Ihr idealer Beruf? Kennen Sie Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliche Stagnation, finanzielle Not oder Armut? Haben Sie schon einmal jemandem geholfen, als er es am meisten brauchte? Haben Sie Hilfe oder Solidarität erhalten, als Sie sie brauchten? Wie weit würden Sie gehen, um Ihr Glück und Ihr Wohlbefinden zu erreichen? Oder was wären Sie bereit, dafür zu tun? Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Sie wegen Chancenungleichheit oder dem Mangel an Chancen Ihr Land verlassen und alle Ihre Lieben zurücklassen müssten? Haben Sie schon einmal einen Mangel an Essen in Ihrem Haushalt erlebt? Hätten Sie den Mut, Ihr Land auf der Suche nach einem besseren Leben zu verlassen? Halten Sie sich für mutig? Was ist das grösste Risiko, das Sie je in Ihrem Leben eingegangen sind? Wie weit würden Sie gehen, um die Menschen zu schützen, die Sie lieben, insbesondere Ihre Familie? Mussten Sie schon einmal lügen, um sich zu schützen? Haben Sie sich verliebt? Wurden Sie betrogen, enttäuscht oder hatten Liebeskummer? Ist eine Beziehung zwischen Ländern und Personen mit völlig unterschiedlichen Kulturen möglich? Wurden Sie schon einmal gehänselt oder gedemütigt, weil Sie in einer fremden Sprache nicht gut oder falsch sprechen? Fühlen Sie sich wie ein vollendeter, erfüllter Mensch? Wenn ja, auf welcher Grundlage haben Sie dies Ihrer Meinung nach erreicht? Wo leben Sie? Erhalten Sie Unterstützung von Ihrem Land? Gründet alles auf Ihrer eigenen Leistung?

Zur Entstehung: Tania Bicalho und Carlina Torres überlegten zusammen, mit welchen Fragen bei der Leser:innenschaft ein Perspektivenwechsel erreicht werden könnte. An einem kollektiven Buchtag im Juni 2021 legten sie ein grosses Papier aus. Alle Beteiligten konnten dort ihre Fragen an die Leser:innen notieren. Nach einem weiteren intensiven Brainstorming schrieben Tania und Carlina daraus den Text.

Pas de papiers Pas de vie Pas de travail Pas de place

Pas d’appartement Pas de compte bancaire

je ne comprends pas, comme ça ? quoi ? comment ?!

pas récupérer des années perdues pas de droit d'aimer

que t’es une étrangère tu ne peux pas

pas marier pas de famille pas des enfants

(wenn du nicht eigenständig bist) (bist du 0 – zéro – nichts»)

Kein Abschnitt Keine Papiere Kein Leben Keine Arbeit Kein Platz

Kein Schreien Kein Weinen Kein Raum

Keine verlorenen Jahre zurückbekommen Kein Recht auf Liebe

Kein Fortgehen Kein Bleiben Kein Durchgehen

dass du eine Fremde bist du kannst nicht

Keine Heirat Keine Familie Keine Kinder

(wenn du nicht eigenständig bist) (bist du 0 - null - nichts)

Zur Erstellung: Was bedeutet es, Sans-Papiers zu sein? Zu dieser Frage trafen sich Chanceline Ndongo, Angeline Mewoulou Essama, Marie Sani und Peti Rota zweimal. Peti hörte vor allem zu. Das Gespräch fand auf Französisch statt, wurde aufgenommen und komplett von Peti transkribiert. In einem zweiten Schritt schrieb Peti aus dem Transkript, aber auch aus dem Gehörten das Gedicht. Der Text wurde mit den drei Gesprächsteilnehmerinnen und der Redaktionsgruppe diskutiert.

Das Leben für uns war damals, wie wenn wir auf einer einsamen Insel gestrandet wären. Ein unendliches Unwetter auf einer einsamen Insel ist vergleichbar damit, obdachlos, hungrig oder alleine zu sein. Denn diese Gefühle sind für uns nicht selten. Wir treffen täglich auf Rassismus, Diskriminierung und grundlose Gewalt, so wie Inselbewohner:innen auf gefährliche Raubtiere stossen. Doch das Gefühl, eine warme Höhle zu finden, die Sicherheit bietet, ist unbeschreiblich erleichternd. Ungefähr so fühlt es sich an, den Sans-Papier-Kollektiven beizutreten. Langsam finden sich Menschen in dieser Höhle zusammen. Sie fangen an, sich gegenseitig zu beschützen, zu helfen und zu unterstützen. Das Wichtigste ist, dass wir uns nicht für selbstverständlich nehmen. Wir schätzen die Hilfe der anderen jeden Tag aufs Neue. Ein Teil der Sans-Papier-Kollektive zu sein, bedeutet Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Gemeinsam sind wir stark.

Zur Entstehung: Was bedeutet für dich Solidarität und Aktivismus? Diese Frage wurde den Koordinationspersonen der Sans-Papiers-Kollektive gestellt. Timur Tumurs Antwort darauf war dieses Gedicht.

Textauszug aus: Sans-Papiers-Kollektive, Von der Kraft des Durchhaltens. © edition 8, 2023.

Die Sans-Papiers-Kollektive sind die Selbstorganisation der Sans-Papiers in Basel. Gemeinsam kämpfen sie dafür, regularisiert zu werden, und haben in einem einmaligen kollektiven Schreibprozess mit über 80 Mitwirkenden das Buch Von der Kraft des Durchhaltens (edition 8, 2023) herausgegeben.

Sans-Papiers-Kollektive

Von der Kraft des Durchhaltens

1 Das Wir war heilig  Es war singulär  umfassend  allmächtig  Absolut  denn es schloss alles ein  Das Wir im Text war ein anderes als jenes in der Sprache des Alltags und der Politik  es erfüllte keine demokratietheoretische Funktion  Narratologisch führte es zu Gott  zur Natur  zum Ursprung allen Seins  Es war mächtiger als die Absichten derjenigen  die den Stift ansetzten  Seine Aussage überstieg das Ausgesagte  Die Erzählperspektive verschluckte das Erzählte  Die Dichtenden nahmen Abstand davon  es zu verwenden  das Wir  Doch auch unausgesprochen klang es weiter  Das lag an der Autorenschaft hinter den Autorinnen  an dem  was durch sie hindurch sprach  als sie im Glauben waren  eine eigene Stimme zu haben  Jedes Ich  jedes Du: ein Modus des Wir  unbenannt  omnipräsent  „Haben wir dir nicht geweitet die Brust und dir abgenommen die Last  darum du gebeugt dich hast?“ (Koran  Sure 94  Verse 1-3)  Das Wir  transzendentales Personalpronomen  Gott  ein Wir  das im Menschen ein Du findet  2 Das Du war geheimnisvoll  Dichtende sprachen es aus  Erzählende dachten  Lesende suchten es  Wo das Wir auf die Singularität rekurrierte  blieb das Du plural  Es war der Geliebte und die Lesende zugleich  Es war der andere  doch das Ich war ein anderer  Das Du blieb auch dann noch Anrufung  wo es Selbstansprache sein wollte   Ein angegriffenes Herz suchte nach seinem Gegenüber  es sagte: „Hier kann dein Herz  dem schwarzen Stern entrissen  mir leicht sein  wie ein Mondstrahl  Magali“  Paul Celan verschickte sein Gedicht in einem Brief aus dem Zwangsarbeitslager in Buzău an Ruth Kraft  „Ich will etwas in Deine Hände legen  Ruth  wie damals mein Leben in Deine Hände gelegt wurde  seltsam  im Taumel und tönend “ Ein Ich  ein Du  eine Anrufung  überlebensnotwendig  Das Du bekam einen Namen: Magali  Den erbte es  verrät Celan in seinem Brief  von einem provenzalischen Volkslied (O Magali  ma tant amado  mete ta tèsto au fenestroun)  Doch das Du  obwohl es den Namen Magali bekam  wurde hier  abermals unausgesprochen  ebenso zu Ruth  Ruth Kraft  Möglicherweise gelang auch das lyrische Ich  das sich selbst dem schwarzen Stern entreißt  in jenes Du  O Magali – die grammatische Trennung der Personalpronomen hob sich auf im Wort hinter dem Wort  in der Ahnung  bis an dessen Schwelle das Wasser der Sprache reicht  Später erreichte jene „Flaschenpost“ andere Dus  unter diesen Dus auch ich  Celan schrieb einmal: „Das Gedicht kann  da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist  eine Flaschenpost sein  aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben  sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden  an Herzland vielleicht  Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu   Worauf? Auf etwas Offenstehendes  Besetzbares  auf ein ansprechbares Du vielleicht  auf eine ansprechbare Wirklichkeit “ Mit der Zeit stieß das Gedicht das Du aus  versperrte sich ihm  Nicht endgültig  es kehrte beharrlich zurück in den Vers  beanspruchte einen Ort  In der Kälte und Dunkelheit der Zeit ein körperloses Lachen  das seine Notwendigkeit verhöhnte  Doch wo das Personalpronomen fehlte  beanspruchte das Du seinen Platz im Klang  Es blieb eine irdische Anbetung  Ebenso heilig wie das Wir  aber seine Größe zog es aus der Beschränkung auf den Menschen als Gegenüber  Das Du  immanentes Personalpronomen  In einem anderen Menschen  jenem Du  sucht Zuflucht ein Ich  3 Das Ich war ein Scheitern  Es war eine Behauptung  begründet in der Not  die mit der Erkenntnis einherging  dass es keine Rettung mehr gab  Wo die Hoffnung auf ein ewiges Leben nach dem  ausblieb  begann die Suche nach dem lebendigen Leben im Hier und Jetzt  Kein Wort schien unberührt zu bleiben von der seligen Sehnsucht der Mystiker  von jenem „ und Werde“! In dem Maß  in dem die Wahrheit außerhalb fraglich wurde  schien sie notwendig  die Wahrheit innerhalb  Die Loslösung eines jeden von jedem  Sprache nun mehr eine „Bleibe  wo Körper immerzu suchen  jeder seinen Verwaiser“ (Beckett)  Das Ich wurde zum Personalpronomen des Horror vacui  Hände  die sich nach dem Du ausstreckten  griffen ins Leere – der Raum war nunmehr „groß genug für vergebliche Suche  Eng genug  damit jegliche Flucht vergeblich “ (Beckett weiter)  Nach der Unmöglichkeit einer Zuflucht zu Gott drohte die Enttäuschung der Hoffnung auf eine Zuflucht des Menschen zum Menschen  Auch der mystisch berührte Gedanke enthielt kaum noch Erlösung  Simone Weil ging in die Konfrontation: „Ganz allgemein wird das  was wir von den anderen erwarten  durch die Wirkungen der Schwerkraft in uns bestimmt  was wir von ihnen empfangen  wird bestimmt durch die Wirkungen der Schwerkraft in ihnen  Bisweilen trifft dies (zufällig) überein  oftmals nicht “ In einer Welt  die aus den Fugen geraten war  verpassten sich die Ichs  Zerbrach das Glas der Flaschenpost? Enthob sich die Sprache ihrem dialogischen Ursprung? „Ich werde am Du“ schrieb Martin Buber  und jetzt zerbrach ich am Ich   Doch gerade am Scheitern des Ichs tat sich die Erzählung auf  Das Ich in der Prosa stieß vor  zog sich zurück  verbarg sich hinter anderen Personalpronomen  verschwand bald ganz  tauchte wieder auf  wurde zum Er  zum Sie  formulierte einen Brief an ein Du  ohne es zu benennen  einem säkularisierten Gott  umschloss ein Wir  Das Dialogische fand innerhalb des Ich statt  denn es war nur noch der Rahmen  Die Welt in mir wurde arbiträr zur Welt außerhalb  Die Geliebte  die ich im Traum traf  war der Lehrer im lichtdurchfluteten Klassenzimmer  Die Sängerin am Tag der offenen Tür meines Herzens war eine Vorstellung  Aber das Vorgestellte trat in die Welt  Die Subjektivierung hatte uns objektiviert  die Singularität war plural – so wie jeder Körper aus Atomen bestand  enthielt jedes Ich etwas von allen anderen  Das Ich  plurales Personalpronomen  Ein Mensch  ein Ich  das im Ich ein Du findet  ein Wir  Deniz Utlu (*1983  Hannover) studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris  Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus  Sein Debütroman  Die Ungehaltenen (Ullstein Verlag)  erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert  Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne Einträge ins Logbuch  2019 erschien sein zweiter Roman Gegen Morgen (Suhrkamp)  Ausserdem hat er Theaterstücke  Lyrik und Essays verfasst (u  a  für FAZ  SZ  Tagesspiegel und Der Freitag)  Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse  Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet  u a  mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover  Dieses Jahr war er für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2023 nominiert 

Deniz Utlus aktueller Roman Vaters Meer erzählt von einem Schicksalsschlag, der eine ganze Familie trifft, von einer Vater-Sohn-Beziehung, die abrupt endet, von Migration und Zugehörigkeit. Er zeichnet die unerwarteten Wege des Lebens wie der Erinnerung nach. Sein Roman zeugt von der Kraft des Erzählens – die dann am deutlichsten wird, wenn die Sprache das Letzte ist, was einem bleibt. Für Gesammelte Wörter haben wir Deniz Utlu gebeten, sich mit dem Festivalthema Ich – Du – Wir mit dem Fokus Erzählperspektive zu nähern. In diesem Text spürt er den Pronomen, ihrer Funktion und ihren Implikationen in sehr poetischer Form nach.

Das Wir war heilig. Es war singulär, umfassend, allmächtig. Absolut, denn es schloss alles ein. Das Wir im Text war ein anderes als jenes in der Sprache des Alltags und der Politik, es erfüllte keine demokratietheoretische Funktion. Narratologisch führte es zu Gott, zur Natur, zum Ursprung allen Seins. Es war mächtiger als die Absichten derjenigen, die den Stift ansetzten. Seine Aussage überstieg das Ausgesagte. Die Erzählperspektive verschluckte das Erzählte. Die Dichtenden nahmen Abstand davon, es zu verwenden, das Wir. Doch auch unausgesprochen klang es weiter. Das lag an der Autorenschaft hinter den Autorinnen, an dem, was durch sie hindurch sprach, als sie im Glauben waren, eine eigene Stimme zu haben. Jedes Ich, jedes Du: ein Modus des Wir, unbenannt, omnipräsent. „Haben wir dir nicht geweitet die Brust und dir abgenommen die Last, darum du gebeugt dich hast?“ (Koran, Sure 94, Verse 1-3). Das Wir, transzendentales Personalpronomen. Gott, ein Wir, das im Menschen ein Du findet.

Das Du war geheimnisvoll. Dichtende sprachen es aus. Erzählende dachten, Lesende suchten es. Wo das Wir auf die Singularität rekurrierte, blieb das Du plural. Es war der Geliebte und die Lesende zugleich. Es war der andere, doch das Ich war ein anderer. Das Du blieb auch dann noch Anrufung, wo es Selbstansprache sein wollte. Ein angegriffenes Herz suchte nach seinem Gegenüber, es sagte: „Hier kann dein Herz, dem schwarzen Stern entrissen, mir leicht sein, wie ein Mondstrahl, Magali“. Paul Celan verschickte sein Gedicht in einem Brief aus dem Zwangsarbeitslager in Buzău an Ruth Kraft. „Ich will etwas in Deine Hände legen, Ruth, wie damals mein Leben in Deine Hände gelegt wurde, seltsam, im Taumel und tönend.“ Ein Ich, ein Du, eine Anrufung, überlebensnotwendig. Das Du bekam einen Namen: Magali. Den erbte es, verrät Celan in seinem Brief, von einem provenzalischen Volkslied (<a href="https://youtu.be/-QG-TC1BvXs" rel="noopener noreferrer">O Magali, ma tant amado, mete ta tèsto au fenestroun</a>). Doch das Du, obwohl es den Namen Magali bekam, wurde hier, abermals unausgesprochen, ebenso zu Ruth, Ruth Kraft. Möglicherweise gelang auch das lyrische Ich, das sich selbst dem schwarzen Stern entreißt, in jenes Du, O Magali – die grammatische Trennung der Personalpronomen hob sich auf im Wort hinter dem Wort, in der Ahnung, bis an dessen Schwelle das Wasser der Sprache reicht. Später erreichte jene „Flaschenpost“ andere Dus, unter diesen Dus auch ich. Celan schrieb einmal: „Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.“ Mit der Zeit stieß das Gedicht das Du aus, versperrte sich ihm. Nicht endgültig, es kehrte beharrlich zurück in den Vers, beanspruchte einen Ort. In der Kälte und Dunkelheit der Zeit ein körperloses Lachen, das seine Notwendigkeit verhöhnte. Doch wo das Personalpronomen fehlte, beanspruchte das Du seinen Platz im Klang. Es blieb eine irdische Anbetung. Ebenso heilig wie das Wir, aber seine Größe zog es aus der Beschränkung auf den Menschen als Gegenüber. Das Du, immanentes Personalpronomen. In einem anderen Menschen, jenem Du, sucht Zuflucht ein Ich.

Das Ich war ein Scheitern. Es war eine Behauptung, begründet in der Not, die mit der Erkenntnis einherging, dass es keine Rettung mehr gab. Wo die Hoffnung auf ein ewiges Leben nach dem Tod ausblieb, begann die Suche nach dem lebendigen Leben im Hier und Jetzt. Kein Wort schien unberührt zu bleiben von der seligen Sehnsucht der Mystiker, von jenem „Stirb und Werde“! In dem Maß, in dem die Wahrheit außerhalb fraglich wurde, schien sie notwendig, die Wahrheit innerhalb. Die Loslösung eines jeden von jedem. Sprache nun mehr eine „Bleibe, wo Körper immerzu suchen, jeder seinen Verwaiser“ (Beckett). Das Ich wurde zum Personalpronomen des Horror vacui. Hände, die sich nach dem Du ausstreckten, griffen ins Leere – der Raum war nunmehr „groß genug für vergebliche Suche. Eng genug, damit jegliche Flucht vergeblich.“ (Beckett weiter). Nach der Unmöglichkeit einer Zuflucht zu Gott drohte die Enttäuschung der Hoffnung auf eine Zuflucht des Menschen zum Menschen. Auch der mystisch berührte Gedanke enthielt kaum noch Erlösung, Simone Weil ging in die Konfrontation: „Ganz allgemein wird das, was wir von den anderen erwarten, durch die Wirkungen der Schwerkraft in uns bestimmt; was wir von ihnen empfangen, wird bestimmt durch die Wirkungen der Schwerkraft in ihnen. Bisweilen trifft dies (zufällig) überein, oftmals nicht.“ In einer Welt, die aus den Fugen geraten war, verpassten sich die Ichs. Zerbrach das Glas der Flaschenpost? Enthob sich die Sprache ihrem dialogischen Ursprung? „Ich werde am Du“ schrieb Martin Buber, und jetzt zerbrach ich am Ich. Doch gerade am Scheitern des Ichs tat sich die Erzählung auf. Das Ich in der Prosa stieß vor, zog sich zurück, verbarg sich hinter anderen Personalpronomen, verschwand bald ganz, tauchte wieder auf, wurde zum Er, zum Sie, formulierte einen Brief an ein Du, ohne es zu benennen, einem säkularisierten Gott, umschloss ein Wir. Das Dialogische fand innerhalb des Ich statt, denn es war nur noch der Rahmen. Die Welt in mir wurde arbiträr zur Welt außerhalb. Die Geliebte, die ich im Traum traf, war der Lehrer im lichtdurchfluteten Klassenzimmer. Die Sängerin am Tag der offenen Tür meines Herzens war eine Vorstellung. Aber das Vorgestellte trat in die Welt. Die Subjektivierung hatte uns objektiviert, die Singularität war plural – so wie jeder Körper aus Atomen bestand, enthielt jedes Ich etwas von allen anderen. Das Ich, plurales Personalpronomen. Ein Mensch, ein Ich, das im Ich ein Du findet, ein Wir.

Deniz Utlu (*1983, Hannover) studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman, Die Ungehaltenen (Ullstein Verlag), erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne Einträge ins Logbuch. 2019 erschien sein zweiter Roman Gegen Morgen (Suhrkamp). Ausserdem hat er Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. für FAZ, SZ, Tagesspiegel und Der Freitag). Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover. Dieses Jahr war er für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2023 nominiert.

Deniz Utlu

Wir, Du, Ich

Über Stunden hinweg werden wieder ihre Besetzungsrügen und Anträge zu hören sein  Damit wird es anfangen  damit fängt es doch immer an  die Verteidiger positionieren sich eben  D  h  vor dem Verhandlungsbeginn werden mehr als zwanzig Minuten lang ausgewählte Fotografen und Kameraleute Aufnahmen von den Angeklagten machen  die sich abwenden werden oder unbeeindruckt zeigen  vielleicht etwas in ihren Kapuzen verschwinden  Danach erst werden die Richter den Saal betreten  und der Vorsitzende wird begrüßen  D h   nachdem wir uns erhoben haben oben auf der Empore  Es werden Präsenzlisten vom Vorsitzenden Richter durchgegangen werden  etwas ausdruckslos wird er die Namen aller anwesenden Rechtsanwälte aufrufen  die der Bundesanwaltschaft  die der Verteidigung  die der Nebenklagevertreter  Ablehnungsgesuche und Befangenheitsanträge werden das Erste sein  was daraufhin zu hören sein wird  Damit wird jedenfalls das Gericht tagelang beschäftigt sein  Immer wieder wird es deswegen Unterbrechungen geben  Pausen  in denen Zigaretten geraucht werden können  draußen in der Spätfrühlingsonne auf dem Vorplatz  schnell ein Kaffee getrunken  Aber vorerst wird es um Gleichbehandlung und um Vorverurteilung gehen  vor allem um die mediale Vorverurteilung  die doch irgendwann den Senat erreichen könnte  Es wird um emotionale Nötigung gehen  Es wird die hohe Gefahr der Adhäsionsklagen durch die Nebenklage erwähnt werden  Es wird das Aufblitzen der Aufschrift »« an einem Kleidungsstück wahrzunehmen sein und e in einem Brief eines Angeklagten an seine Familie erwähnt werden  Jemand im Gerichtssaal wird lautstark seine Verwunderung darüber kundtun  Und der eine oder die andere wird da unten immer wieder anmerken  dass Kollegen die Grundregeln der Strafprozessordnung nicht verinnerlicht hätten  Das wird sich wiederholen  Wir werden noch nicht alle da sein  wir werden erst so nach und nach eintreffen  über die Jahre hinweg wird immer wieder jemand dazu kommen und jemand wegbleiben  manche werden auch nie wiederkommen  ohne sich recht verabschiedet zu haben  und uns wird es erst einmal auch nicht auffallen  Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein  Wir wissen noch nicht auf was wir uns da einlassen   [   ]  Und so werden wir reingehen  Wir werden den Ort ganz leicht finden  den modernen Siebzigerjahrebau  der nicht so zugewachsen wirkt von seiner Zeit  wie man es von anderen Siebzigerjahrebauten her kennt  aber dennoch über genügend Unübersichtlichkeit verfügt  um ein veritables Gericht darzustellen  Direkt an einen U-Bahnausgang herangerückt hat man das Strafzentrum  als wolle man mit aller Macht das Gebäude in der Stadt verorten  obwohl in ihm gerade die Stadt zu verschwinden droht  Die Stadt bleibt ja immer stärker zurück hinter Gerichtstüren als hinter anderen Türen  in diesem Fall wird sie sehr weit draußen bleiben  zu weit draußen  Die Stadt wird ihre Gedenktafel erst Monate nach dem Prozessbeginn anbringen  sie kann sich eben erst sehr spät dazu entschließen  der e zu gedenken  die hier passiert sind  Freilich nicht direkt an diesem Platz mit seinem Price-Waterhouse-Coopers-Gesicht  den Büro- und Wirtschaftsgroßbauten  in deren Erdgeschossen diverse Restaurants  dean david  Italiener und Coffeeshops eingebaut sind  für die Mittagspausen  aus denen die Gegend manchmal alleine zu bestehen scheint   Wir werden also wie eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe der Zuhörenden und Weghörenden wirken  denn manchmal muss man auch weghören  manchmal muss man einfach abschweifen  denn die Dinge werden sich ja wiederholen  Wir werden das alles bald kennen  Wir sind dann der Mittwochskreis oder der Donnerstagstreff und die Dienstagsrentner  die wissen wollen  wie das mit ihrem Rechtsstaat läuft  die wachen Bürger  wie es immer heißt  die sich nicht Aktivist*innen nennen wollen  oder Interessensgruppe  die  die fürs Ganze stehen wollen und mit allen reden können  selbst mit »den Rechten«  Wir werden die sein  die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht  aber von denen man weiß  dass sie da sein müssen  Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten  die  die erst mal auf keiner Seite stehen  sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen  dem Funktionieren der Maschine  die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten  die Aufgeschreckten  dass so eine - und serie in Deutschland möglich sein kann  Wir werden die sein  die sich wundern   [   ]  Wir wollen einfach sehen  was in diesem Land geschieht  und wo kann man es deutlicher sehen als in den Gerichtssälen dieses Landes  vor allem in diesem historischen Prozess  den man einmal den Nachwendeprozess schlechthin nennen wird  Wir werden diesen Ort  der unsere Demokratie absichert  betreten müssen  denn betreten haben wir bisher eher so ein Rechthabenwollen  unser Bedürfnis nach dem Richtspruch  schon morgens nach dem Aufstehen dieses Bedürfnis  auf der richtigen Seite zu stehen  unsere Sehcht nach dem Urteil  das uns hierherbegleitet hat  Ja  wir werden einen Fuß hineinsetzen wollen in den Ort  an dem jetzt schon von einem Parallelverfahren die Rede ist  hier oben auf den Rängen  das bereits durch die Medien laufe und verurteilt hätte  wo doch erst zu urteilen ist  wie die Verteidiger nicht müde werden im Lauf des Prozesses zu betonen  und zwar durch ein rechtsstaatliches Verfahren  dem gewisse Grundsätze und Prinzipien zugrunde liegen  Haben wir bereits etwas verpasst? »Keine Sorge«  ruft man uns zu  »wir fangen erst an « Aber das stimmt natürlich nicht  Nur hier im Saal fangen sie erst an  Nur hier drinnen richten sich erst alle auf ihren Plätzen ein  nur für uns haben sich die Gerichtstüren noch nicht geöffnet  und die Richter mit ihrem Vorsitzenden sind noch nicht erschienen  nur wir haben uns noch nicht erhoben und wurden vom Richter noch nicht mit einem dreifachen »Guten Morgen« begrüßt  Die unerhörte Medienaufmerksamkeit ist auch noch dabei  sich zu sammeln und zusammenzuballen  um dann wieder abzuebben und in den Redaktionen als Überdruss festzuwachsen  Aber keiner  das möchten wir an dieser Stelle betonen  wirklich keiner kann behaupten  der Prozess gehöre nur ihm und niemandem sonst  Das Gebirge  als das er bezeichnet werden kann  wird sich bald schon hochschieben und über die Jahre wachsen  und am Ende wird der Raum voll mit ihm sein  bis es kaum noch Luft gibt zu atmen   [   ]  Über die Unübersichtlichkeit des Prozesses machen wir uns noch keine Gedanken  auch wir werden immer weiter wollen  die ganzen Präliminarien  wie wir sie eine Weile noch bezeichnen werden  interessieren uns nur insofern  als wir sagen können  sie gehören dazu  »So ist halt die Juristerei«  kommt bereits fachmännisch aus unseren Mündern  als wäre das Fachmännische irgendeine ansteckende Krankheit  die man sich hier schneller als anderswo zuziehen kann   »Die eigentliche Frage ist doch«  so unterbricht uns eine Person hinter uns  »ist das en schon vorbei?« – »Wissen Sie«  kommt sofort standardmäßig von uns  »wir sind ja keine Juristen  wir können da keine Auskunft erteilen«  informieren wir die junge Frau  Diese wiederholt aber: »Ist das en schon vorbei? Ist die Angeklagte mit den Katzenkörben ein für allemal an uns vorübergegangen und kehrt nicht wieder  vielleicht in einer anderen Version?« Wir zucken mit den Achseln  So was wissen wir nicht  Sie erwartet ohnehin keine Antwort  »Oder«  spricht sie schon weiter  »ist nicht längst eine andere nachbarschaftsfreundliche Person unterwegs  mit anderen Sportsfreunden an ihrer Seite auf ihren Fahrrädern  die von Geschäftstür zu Geschäftstür gehen und manchmal abdrücken  manchmal auch nicht? Sind nicht in Wirklichkeit andere unterwegs  die sich aufs Video- und Bombenbasteln verstehen  um den großen  zu verhindern  von dem sie immer faseln?« Wir wollen die junge Frau nicht unterbrechen  aber man versteht ja gar nicht mehr  was da unten abläuft  wenn sie nicht aufhört zu reden  Ob sie mal still sein könne  wir wollten zuhören  das Gericht sei ja eher der Ort fürs Stillsein  zumindest für unsereins  setzen wir hinzu  doch die Frau denkt gar nicht daran  still zu sein  »Aber ja«  fügt der Gerichtsopa gutmütig hinzu  das könne man sich schon vorstellen  worauf die junge Frau hinauswolle  – »Was können Sie sich vorstellen?«  blafft diese ihn an  Der Gerichtsopa schweigt einen Moment  »Wie das ist  wenn der eigene Vater unter den Opfern sein könnte  der eigene Bruder  der eigene Sohn?« Dazu sagt er erst einmal nichts  Bevor eine peinliche Stille entsteht  geben wir bekannt  dass sich unser Vorstellungsvermögen auch erst in den kommenden Wochen und Monaten von Zeugenaussagen entwickeln wird  noch seien wir nicht so weit  wir alle nicht  Vorerst lässt auch der O-Ton-Jurist um Ruhe bitten  Der Gerichtsopa lässt um Ruhe bitten  die Figuren rund um uns machen psssst  da haben die Justizvollzugsbeamten gar nichts mehr zu tun   Insofern wird die Frage  ob eine andere Katzenfrau noch unterwegs ist  erst einmal weitgehend unbeantwortet bleiben  Die Erklärburschen finden solche Überlegungen von vorneherein unsinnig  denn wenn das Gericht beginnt  setzt automatisch eine Vergangenheitsform ein  Etwas ist vorbei  garantiert es uns  und das ist ja gerade das Erleichternde  Über Zukünftiges kann man nicht richten  das ist ja logisch  die Sache muss als abgeschlossen definiert sein  das ist die Aufgabe der Staatsanwälte  und das haben sie ja wohl gemacht  das zumindest wohl  Und wenn später einige im Saal die Dinge offenhalten wollten  dann sei das ihr Problem  »das hat mit dem Wesen des Gerichts nichts zu tun«  werden wir bald allen erklären  ob sie es hören wollen oder nicht   Textauszug aus: Kathrin Röggla  Laufendes Verfahren  © S  Fischer Verlag GmbH  Frankfurt am Main  2023  Kathrin Röggla (*1971  Salzburg) arbeitet als Prosa- und Theaterautorin  entwickelt Radiostücke und unterrichtet an der Kunsthochschule für Medien in Köln  Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise  darunter den Italo-Svevo-Preis  den Anton-Wildgans-Preis und den Arthur-Schnitzler-Preis  wir schlafen nicht (S  Fischer Verlag  2004) wurde mit dem Preis der SWR-Bestenliste und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet  Für die alarmbereiten (S  Fischer Verlag  2012) wurde sie mit dem Franz-Hessel-Preis geehrt  Zuletzt wurde am Staatsschauspiel Dresden ihr Klimakrisen-Stück Das Wasser (Reclam  2023) von Jan Gehler uraufgeführt  Ihr Roman zum -Prozess Laufendes Verfahren (S  Fischer Verlag  2023) erscheint diesen Herbst  Für ihr gesellschaftspolitisches Engagement erhält Kathrin Röggla Ende des Jahres den Heinrich-Böll-Preis 2023 

„Kein Schlussstrich!” Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines Wir ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind wir eigentlich, wenn jedes Wir durch den Prozess in Frage gestellt wird? Die Folgenden Ausschnitte sind eine Strichversion aus den ersten beiden Kapiteln dieses dokumentarischen Romans, in denen dieses komplexe Wir den Gerichtssaal betritt.

Über Stunden hinweg werden wieder ihre Besetzungsrügen und Anträge zu hören sein. Damit wird es anfangen, damit fängt es doch immer an, die Verteidiger positionieren sich eben. D. h. vor dem Verhandlungsbeginn werden mehr als zwanzig Minuten lang ausgewählte Fotografen und Kameraleute Aufnahmen von den Angeklagten machen, die sich abwenden werden oder unbeeindruckt zeigen, vielleicht etwas in ihren Kapuzen verschwinden. Danach erst werden die Richter den Saal betreten, und der Vorsitzende wird begrüßen. D.h., nachdem wir uns erhoben haben oben auf der Empore. Es werden Präsenzlisten vom Vorsitzenden Richter durchgegangen werden, etwas ausdruckslos wird er die Namen aller anwesenden Rechtsanwälte aufrufen, die der Bundesanwaltschaft, die der Verteidigung, die der Nebenklagevertreter. Ablehnungsgesuche und Befangenheitsanträge werden das Erste sein, was daraufhin zu hören sein wird. Damit wird jedenfalls das Gericht tagelang beschäftigt sein. Immer wieder wird es deswegen Unterbrechungen geben, Pausen, in denen Zigaretten geraucht werden können, draußen in der Spätfrühlingsonne auf dem Vorplatz, schnell ein Kaffee getrunken. Aber vorerst wird es um Gleichbehandlung und um Vorverurteilung gehen, vor allem um die mediale Vorverurteilung, die doch irgendwann den Senat erreichen könnte. Es wird um emotionale Nötigung gehen. Es wird die hohe Gefahr der Adhäsionsklagen durch die Nebenklage erwähnt werden. Es wird das Aufblitzen der Aufschrift »Waffenbrüder« an einem Kleidungsstück wahrzunehmen sein und Hakenkreuze in einem Brief eines Angeklagten an seine Familie erwähnt werden. Jemand im Gerichtssaal wird lautstark seine Verwunderung darüber kundtun. Und der eine oder die andere wird da unten immer wieder anmerken, dass Kollegen die Grundregeln der Strafprozessordnung nicht verinnerlicht hätten. Das wird sich wiederholen. Wir werden noch nicht alle da sein, wir werden erst so nach und nach eintreffen, über die Jahre hinweg wird immer wieder jemand dazu kommen und jemand wegbleiben, manche werden auch nie wiederkommen, ohne sich recht verabschiedet zu haben, und uns wird es erst einmal auch nicht auffallen. Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein. Wir wissen noch nicht,auf was wir uns da einlassen. [...] Und so werden wir reingehen. Wir werden den Ort ganz leicht finden, den modernen Siebzigerjahrebau, der nicht so zugewachsen wirkt von seiner Zeit, wie man es von anderen Siebzigerjahrebauten her kennt, aber dennoch über genügend Unübersichtlichkeit verfügt, um ein veritables Gericht darzustellen. Direkt an einen U-Bahnausgang herangerückt hat man das Strafzentrum, als wolle man mit aller Macht das Gebäude in der Stadt verorten, obwohl in ihm gerade die Stadt zu verschwinden droht. Die Stadt bleibt ja immer stärker zurück hinter Gerichtstüren als hinter anderen Türen, in diesem Fall wird sie sehr weit draußen bleiben, zu weit draußen. Die Stadt wird ihre Gedenktafel erst Monate nach dem Prozessbeginn anbringen, sie kann sich eben erst sehr spät dazu entschließen, der Morde zu gedenken, die hier passiert sind. Freilich nicht direkt an diesem Platz mit seinem Price-Waterhouse-Coopers-Gesicht, den Büro- und Wirtschaftsgroßbauten, in deren Erdgeschossen diverse Restaurants, dean&amp;david, Italiener und Coffeeshops eingebaut sind, für die Mittagspausen, aus denen die Gegend manchmal alleine zu bestehen scheint. Wir werden also wie eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe der Zuhörenden und Weghörenden wirken, denn manchmal muss man auch weghören, manchmal muss man einfach abschweifen, denn die Dinge werden sich ja wiederholen. Wir werden das alles bald kennen. Wir sind dann der Mittwochskreis oder der Donnerstagstreff und die Dienstagsrentner, die wissen wollen, wie das mit ihrem Rechtsstaat läuft, die wachen Bürger, wie es immer heißt, die sich nicht Aktivist*innen nennen wollen, oder Interessensgruppe, die, die fürs Ganze stehen wollen und mit allen reden können, selbst mit »den Rechten«. Wir werden die sein, die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht, aber von denen man weiß, dass sie da sein müssen. Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen, sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen, dem Funktionieren der Maschine, die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern. [...] Wir wollen einfach sehen, was in diesem Land geschieht, und wo kann man es deutlicher sehen als in den Gerichtssälen dieses Landes, vor allem in diesem historischen Prozess, den man einmal den Nachwendeprozess schlechthin nennen wird. Wir werden diesen Ort, der unsere Demokratie absichert, betreten müssen, denn betreten haben wir bisher eher so ein Rechthabenwollen, unser Bedürfnis nach dem Richtspruch, schon morgens nach dem Aufstehen dieses Bedürfnis, auf der richtigen Seite zu stehen, unsere Sehnsucht nach dem Urteil, das uns hierherbegleitet hat. Ja, wir werden einen Fuß hineinsetzen wollen in den Ort, an dem jetzt schon von einem Parallelverfahren die Rede ist, hier oben auf den Rängen, das bereits durch die Medien laufe und verurteilt hätte, wo doch erst zu urteilen ist, wie die Verteidiger nicht müde werden im Lauf des Prozesses zu betonen, und zwar durch ein rechtsstaatliches Verfahren, dem gewisse Grundsätze und Prinzipien zugrunde liegen. Haben wir bereits etwas verpasst? »Keine Sorge«, ruft man uns zu, »wir fangen erst an.« Aber das stimmt natürlich nicht. Nur hier im Saal fangen sie erst an. Nur hier drinnen richten sich erst alle auf ihren Plätzen ein, nur für uns haben sich die Gerichtstüren noch nicht geöffnet, und die Richter mit ihrem Vorsitzenden sind noch nicht erschienen, nur wir haben uns noch nicht erhoben und wurden vom Richter noch nicht mit einem dreifachen »Guten Morgen« begrüßt. Die unerhörte Medienaufmerksamkeit ist auch noch dabei, sich zu sammeln und zusammenzuballen, um dann wieder abzuebben und in den Redaktionen als Überdruss festzuwachsen. Aber keiner, das möchten wir an dieser Stelle betonen, wirklich keiner kann behaupten, der Prozess gehöre nur ihm und niemandem sonst. Das Gebirge, als das er bezeichnet werden kann, wird sich bald schon hochschieben und über die Jahre wachsen, und am Ende wird der Raum voll mit ihm sein, bis es kaum noch Luft gibt zu atmen. [...] Über die Unübersichtlichkeit des Prozesses machen wir uns noch keine Gedanken, auch wir werden immer weiter wollen, die ganzen Präliminarien, wie wir sie eine Weile noch bezeichnen werden, interessieren uns nur insofern, als wir sagen können, sie gehören dazu. »So ist halt die Juristerei«, kommt bereits fachmännisch aus unseren Mündern, als wäre das Fachmännische irgendeine ansteckende Krankheit, die man sich hier schneller als anderswo zuziehen kann. »Die eigentliche Frage ist doch«, so unterbricht uns eine Person hinter uns, »ist das Morden schon vorbei?« – »Wissen Sie«, kommt sofort standardmäßig von uns, »wir sind ja keine Juristen, wir können da keine Auskunft erteilen«, informieren wir die junge Frau. Diese wiederholt aber: »Ist das Morden schon vorbei? Ist die Angeklagte mit den Katzenkörben ein für allemal an uns vorübergegangen und kehrt nicht wieder, vielleicht in einer anderen Version?« Wir zucken mit den Achseln. So was wissen wir nicht. Sie erwartet ohnehin keine Antwort. »Oder«, spricht sie schon weiter, »ist nicht längst eine andere nachbarschaftsfreundliche Person unterwegs, mit anderen Sportsfreunden an ihrer Seite auf ihren Fahrrädern, die von Geschäftstür zu Geschäftstür gehen und manchmal abdrücken, manchmal auch nicht? Sind nicht in Wirklichkeit andere unterwegs, die sich aufs Video- und Bombenbasteln verstehen, um den großen Bevölkerungsaustausch zu verhindern, von dem sie immer faseln?« Wir wollen die junge Frau nicht unterbrechen, aber man versteht ja gar nicht mehr, was da unten abläuft, wenn sie nicht aufhört zu reden. Ob sie mal still sein könne, wir wollten zuhören, das Gericht sei ja eher der Ort fürs Stillsein, zumindest für unsereins, setzen wir hinzu, doch die Frau denkt gar nicht daran, still zu sein. »Aber ja«, fügt der Gerichtsopa gutmütig hinzu, das könne man sich schon vorstellen, worauf die junge Frau hinauswolle. – »Was können Sie sich vorstellen?«, blafft diese ihn an. Der Gerichtsopa schweigt einen Moment. »Wie das ist, wenn der eigene Vater unter den Opfern sein könnte, der eigene Bruder, der eigene Sohn?« Dazu sagt er erst einmal nichts. Bevor eine peinliche Stille entsteht, geben wir bekannt, dass sich unser Vorstellungsvermögen auch erst in den kommenden Wochen und Monaten von Zeugenaussagen entwickeln wird, noch seien wir nicht so weit, wir alle nicht. Vorerst lässt auch der O-Ton-Jurist um Ruhe bitten. Der Gerichtsopa lässt um Ruhe bitten, die Figuren rund um uns machen psssst, da haben die Justizvollzugsbeamten gar nichts mehr zu tun. Insofern wird die Frage, ob eine andere Katzenfrau noch unterwegs ist, erst einmal weitgehend unbeantwortet bleiben. Die Erklärburschen finden solche Überlegungen von vorneherein unsinnig, denn wenn das Gericht beginnt, setzt automatisch eine Vergangenheitsform ein. Etwas ist vorbei, garantiert es uns, und das ist ja gerade das Erleichternde. Über Zukünftiges kann man nicht richten, das ist ja logisch, die Sache muss als abgeschlossen definiert sein, das ist die Aufgabe der Staatsanwälte, und das haben sie ja wohl gemacht, das zumindest wohl. Und wenn später einige im Saal die Dinge offenhalten wollten, dann sei das ihr Problem, »das hat mit dem Wesen des Gerichts nichts zu tun«, werden wir bald allen erklären, ob sie es hören wollen oder nicht.

Textauszug aus: Kathrin Röggla, Laufendes Verfahren. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2023.

Kathrin Röggla (*1971, Salzburg) arbeitet als Prosa- und Theaterautorin, entwickelt Radiostücke und unterrichtet an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Italo-Svevo-Preis, den Anton-Wildgans-Preis und den Arthur-Schnitzler-Preis; wir schlafen nicht (S. Fischer Verlag, 2004) wurde mit dem Preis der SWR-Bestenliste und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet. Für die alarmbereiten (S. Fischer Verlag, 2012) wurde sie mit dem Franz-Hessel-Preis geehrt. Zuletzt wurde am Staatsschauspiel Dresden ihr Klimakrisen-Stück Das Wasser (Reclam, 2023) von Jan Gehler uraufgeführt. Ihr Roman zum NSU-Prozess Laufendes Verfahren (S. Fischer Verlag, 2023) erscheint diesen Herbst. Für ihr gesellschaftspolitisches Engagement erhält Kathrin Röggla Ende des Jahres den Heinrich-Böll-Preis 2023.

Kathrin Röggla

Laufendes Verfahren

Das Feuer brannte bis zum nächsten Morgen  Sie hatte sich ausgeruht  Sie hatte ihre Sachen gepackt und war bereit  aufzubrechen  Die Briefe hatte sie auf dem Tisch fein säuberlich zu einem kleinen Stapel zusammen geschoben  sodass die Ecken bündig übereinander lagen  Sie schloss die Tür hinter sich nicht ab und lief den Weg vom Haus zur Straße  ohne sich umzudrehen  Unbehagen kam in ihr auf  Würde sie es im Nachhinein bereuen  den Entschluss in dieser radikalen Form umgesetzt zu haben? Mit gespielter Überzeugung verdrängte sie die aufwühlenden Gedanken und summte leise die Melodie  die sie zurück an unbelastete Kindheitstage in den Sommerferien am Meer erinnerte  Das passte zu ihr  Es passte ganz hervorragend zu dieser Generation alles wegzuschieben  Bis sich Berge von Gedankengängen aufhäufen  die alles unmöglich erscheinen lassen  „Wir leben in unseren Köpfen“  dachte sie  Wie lange kann man so leben? Abwägen  vergleichen  vermuten und wieder von vorne beginnen  analysieren  überlegen  glauben  verrückt werden  In einem Sumpf immer tiefer versinken  bis man nicht mehr rauskommt und die Gedanken nur noch kreisen  bis sie einen fest umschlingen und der Atem wegbleibt  Es musste etwas geschehen  etwas  das so groß und intensiv war  dass sie zwang  sofort zu  handeln und aus der Gedankenwelt auszubrechen  Sie griff zu ihrer E-Zigarette  aber ohne Nikotin und geschmacksneutral  Das Paff-Ding  wie sie es nannte  sollte eigentlich für ausgewählte Momente sein  wie etwa ein Bar-Abend  wo alle rauchen oder für ein Festival und nicht im Alltag herhalten  Sie inhalierte ein paar Züge vor sich hin  aber beruhigte sich dadurch kein bisschen  Sie schaute in den Spiegel und untersuchte ihre Zähne  die seit fast einem Jahr keine Nikotinbeläge mehr hatten  Zumindest das war geschafft  dachte sie  packte die E-Zigarette zurück in die Schublade und atmete einmal tief ein und aus  „Beim Rauchen ohne Nikotin fühle ich mich wie eine Plastikblume  die gegossen wird“   dachte sie sich  Also zog sie sich in ihr Arbeitszimmer zurück  schaltete das Radio ein und setzte sich auf ihren schwarzen Lieblingssessel mit verstellbarer Rückenlehne  den man eigentlich eher im Wohnzimmer ihres Großvaters vermuten würde als bei einer modernen  geschmackvollen und jungen Frau  Als sie sich vor zwei Jahren von ihrem Freund getrennt hatte und in ihre neue Wohnung am Stadtrand zog  musste sie kurzfristig neue Möbel besorgen und da kam ihr das Lederteil  das bei ihrem ehemaligen Nachbarn Herbert und einem „Zu verschenken“ - Zettel vor der Tür stand  gerade recht  Aus modischen Gründen ist er zwar mittlerweile vom Wohnzimmer ins Arbeitszimmer gewandert  aber nirgendwo konnte sie so gut entspannen wie auf dem Sessel  auf dem der schnauzbärtige Polizist Herbert in den letzten 10 Jahren etliche Folgen Navy CIS gesehen und gefühlt alle Biathlonweltcups im Fernsehen verfolgt hatte  Dieses Mal war sie so aufgebracht  dass sie selbst in ihrem geliebten Sessel nicht zur Ruhe finden konnte  doch als sie im Radio den Bericht über den geplanten Krankenhausbau im Neubaugebiet hörte  kam ihr eine Idee  Sie würde eine Pension für Angehörige eröffnen und den Fehler von damals korrigieren  Angehörige wurden immer vergessen  Alles drehte sich um den Kranken und die Krankheit  dass da möglicherweise eine ganze Familie dranhing  die genauso litt  mindestens  ja  das wusste man  aber darüber setzte man sich hinweg  meinte sich hinwegsetzen zu müssen  schon aus praktischen Erwägungen  Damit wäre es vorbei in ihrer Pension neben dem neuen Krankenhaus  Sie schmiegte sich tiefer in ihren alten Stressless-Sessel und genoss ihren Plan  als wäre er bereits Realität: Gäste fragten nach Rat  dankten ihr überschwänglich  lagen ihr in den Armen  endlich war sie kein lästiges angehöriges Anhängsel mehr  sie war diejenige  die allen ein Obdach gab  allen  die es verdient hatten  die Überlegenheit der Kranken durch ihre Krankheit war außer Kraft gesetzt  endlich  Die Euphorie währte jedoch nur kurze Zeit  denn all ihre schönen Pläne wurden eines Tages zunichte gemacht  Es geschah  worüber sie nie hatte nachdenken mögen und womit sie daher in ihrer Naivität gar nicht rechnete: Die Kranke  ganz plötzlich! Starb einfach so  ohne das wahrscheinlich ihr allein noch bekannte düstere Geheimnis preiszugeben  ohne auch nur ein Wort des Abschieds zu äußern  Und das Krankenhaus war mit einem Mal wieder ein fremder  bedeutungsloser Ort für unsere Heldin  von dem sie so schnell wie möglich fort wollte    Die Vorstellung  mit einer Kranken zu leben  löste damals  als Sibylle ihr von der Stelle auf dem Zürichberg erzählte  zuerst Übelkeit aus  Ihr Geruchssinn war hochsensibel  sie roch normalerweise Krankheiten  noch bevor sie ausbrachen  Die Notlage  in die sie - durch ihre Unachtsamkeit mit all den fatalen Folgen - geraten war  zwang sie jedoch  schnell eine neue Bleibe zu finden und dieses Stellenangebot fühlte sich nach anfänglicher Skepsis an wie ein Lottogewinn   Die alleinstehende Nachbarin von Sibylles Eltern hatte auf Grund einer Diabetes-Erkrankung Probleme mit dem Augenlicht bekommen und suchte eine Frau  die ihre Bonsai-Sammlung akribisch pflegte  täglich die Blutzuckerwerte ablas  das Insulin berechnete und dafür kostenlos im Zimmer ihrer verstorbenen Schwester leben konnte  Gefordert waren Geschicklichkeit  ausgeprägte botanische Interessen und die strikte Unterlassung von unnötigem Geschwätz  Letzteres war eine echte Herausforderung  denn nachdem sie jahrelang nichts zu erzählen hatte  sprudelten ihre Gedanken heute schneller über ihre wohlgeformten Lippen  als dass sie noch rechtzeitig hätten sortiert werden können  Das war zwar anstrengend für die sorgfältig ausgewählten Zuhörerinnen  die allerdings mit etwas gutem Willen eine unglaublich reiche und bunte Geruchswelt erfahren konnten Für andere war es schlichtes Geschwätz  doch sie fragte sich  ob Mini-Bäume da einen Unterschied machen würden  ob sie nicht alle warmen Worte gleichermaßen zum Gedeihen nutzten? Ihre Lage hatte sie als Therapeutin sich selbst zuzuschreiben  im Krankenhaus hätte sie sich nicht in die Behandlung einzumischen  auch wenn ihre Nase ihr stets zuverlässig verraten konnte  was den Patientinnen der Gynäkologie im Grunde fehlte  So zog sie also mitten im August in das kleine  von Schwere durchzogene Zimmer dieser fast blinden Frau auf dem Zürichberg  wissend  dass sie die Sehnsucht nach dem Türkisblau der seidenkühlen Aare mitten durch Bern  ihre Herzensstadt  nicht würde überwinden können  Es war dann ein Freitag  Tags zuvor veranstaltete die Gynäkologiestation ihr wegen einen Abschiedsapéro  überreichten ihr einer dieser überprunkvollen Blumensträuße und ein Büchergutschein - in einem guten Buch kann man schneller als an einem fremden Ort Heimat finden  sagten sie  Am Morgen fuhr der Zügelwagen vor  bald war ihr Zimmer in diesem Auto verstaut und verschwand hinter der Ecke - sie stand noch auf der Gasse  wohlwissend bald den Zug nach Zürich nehmen zu müssen  wo ein kleines leeres Zimmer und ein in Kartonschachteln verpacktes Zimmer darauf warten  zusammengeführt werden  Das Zugticket hatte sie absichtlich erst für den frühen Nachmittag reserviert  Sie wollte diesen Moment für sich haben  Noch ein letztes Mal die Wohnung und das leergeräumte Zimmer durchstreifen  das so lange ihr Zuhause war  Ein letzter Blick aus dem Dachfenster über die nahegelegen Gleise werfen und dabei eine Nebelschwade einfangen oder ein blinkendes Lichtsignal  Ihre Hand berührte die kühle Hauswand hinter ihrem Rücken und sie dachte an Zürich und alles  was noch sein kann  Mit einem kleinen Anflug von Wehmut und einem viel größeren Gefühl der Vorfreude auf den bevorstehenden Sprung ins Ungewisse trat sie nun durch die Wohnungstür und stieg zügig die Treppenstufen hinunter  Kein einziges Mal blickte sie zurück  auch in Gedanken war sie bereits weit vorne  Würden die sorgfältig geplanten nächsten Tage glatt verlaufen? Und was kommt danach?  Beim in die Jahre gekommenen Bahnhofsgebäude angekommen  schaute sie auf die Uhr  Pünktlich wie immer  Der geneigte Leser fragt sich an dieser Stelle möglicherweise  ob ihr Perfektionismus auf der einen Seite und der Mut  ein völlig neues Leben zu beginnen  auf der anderen Seite sich nicht grundsätzlich widersprechen  Auch ihr war diese Ambivalenz sehr bewusst  als sie auf den Zug zumarschierte  Sie hatte zwar die nächsten Tage sorgfältig planen können  wie schnell sie aber in der neuen Stadt ohne Freunde  ohne Job und ohne Wohnung Fuß fassen würde  stand noch in den Sternen  Sie stieg in den Zug ein und suchte ihren Sitzplatz  „Oh Paris  bald bin ich bei dir“  dachte sie  schloss die Augen und spürte  wie der Zug rumpelnd anfuhr  In Gedanken reflektierte sie die letzten Stunden ihres ‚alten Lebens‘ und drückte sich dabei zufrieden in den komfortablen Sessel der ersten Klasse  Wage nahm sie die Durchsage mit der freundlichen männlichen Stimme wahr  die die wichtigsten Reiseinformationen ankündigte  Plötzlich wurde sie abrupt aus ihren Gedanken gerissen  Ein Mann tippte auf ihre Schulter: „Entschuldigen Sie die Störung  aber beim Einsteigen haben Sie etwas verloren “ Er lächelte zaghaft und überreichte ihr einen roten Umschlag  In seinem von Falten gezeichneten Gesicht meinte sie  all die Geschichten zu erkennen  die sich darin einschrieben  Wäre sie in einer ähnlichen Weise alt geworden? In ihrem „alten Leben“ sicher nicht  wohl aber mit dem  was nun vor ihr lag  mit der Freiheit  die nun zum Greifen nah war  Sie nahm den Umschlag  einen Brief  den sie sich vor ihrem Aufbruch selbst schrieb  um sich daran zu erinnern  warum sie sich auf diesen Weg begab  Er hatte sie durch ungeahnte Höhen und Tiefen geführt hatte  sie fliegen und fallen gelassen  sie auf- und niedergeworfen  nur um sie schließlich  die Augen voll Horror und das Herz voll Empathie  auferstehen zu lassen  Sie hatte sich wieder gefunden  sie liebte sich  Sie liebte sich endlich wieder  Zurückgewonnene Liebe  zurückgewonnener Mut  zurückgewonnene Freiheit  So musste es sich anfühlen  zu den Siegertypen zu gehören  nur dass das hier nicht ihr Ziel  sondern erst der Anfang von etwas Neuem war  Wie würde eine Trophäe aussehen  welche sie sich in eine gläserne Vitrine stellen würde  so wie es Sieger machten  auf die sie auch noch dreißig Jahre später zeigen und stolz ihren Nachkommen berichten  wie sie es zu diesem Sieg geschafft hatten und vor der auch ehrfurchtsvoll fremde Menschen stehen bleiben würden und sie als Ansporn  als Inspiration  als Vorbild nehmen würden  Sie  die zu sich  zu ihrer inneren Stärke  gefunden hat  weil sie ihre eigene Siegerin war und sich diese Auszeichnung verdient hat  als Zeichen des Triumphs  sich wiedergefunden zu haben  in all den Höhen und Tiefen nicht verloren gegangen zu sein  Ein organischer Pokal müsse es sein  dort in der Vitrine  ein Organismusglied  welches sinnbildlich zeigen würde  wie lebendig sie sich fühlte  im harmonischen Zusammenwirken von Körper und Geist  Ein zufriedenes Seufzen drang zwischen ihren Lippen hervor  als sie den Schraubenzieher in den Werkzeugkasten legte  Sie schloss die gläsernen Türen der Vitrine  betrachtete einen Moment lang ihr eigenes Spiegelbild im Glas  Ein Bett  ein Nachtschränkchen  ein ausgefranster Teppich und jetzt auch eine Vitrine  Staubflocken tanzten träge im Licht der Sonnenstrahlen  die durch das Fenster in das schmale Zimmer fielen  Es war ein Anfang  Erschrocken von ihrer eigenen Gedankenlosigkeit taumelte sie einige Schritte zurück und stieß dabei gegen die auf dem Boden verteilten halb ausgeräumten Kisten  Darin stapelten sich ungelesene Bücher über Selbstoptimierung  umrahmt von Ordnern mit unsortierten Mitschriften aus ihrem Studium  die leeren Räume dazwischen ausgestopft mit den ungewaschenen Shirts und Socken  die sie aus ihrer alten Wohnung hatte retten können  Sie brauchte diesen Neuanfang mehr als sie zugeben wollte  Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren  die Uhr zeigte bereits zehnuhrachtundzwanzig  packte sie hastig einige Sachen zusammen - einen Kugelschreiber  mehrere Boulevardmagazine  ihr Feuerzeug  einen Abzug ihres Lieblingsfotos - und verließ die Wohnung  Der Revolver zwischen den Büchern  neben den Ordnern  unter den Shirts verblieb regungslos zurück - eine Erinnerung daran  dass manchmal das  was wir hinter uns lassen  genauso bedeutend ist wie das  was wir mit uns tragen  Der Umzug hatte sie enorme Kräfte gekostet  mehr als sie sich zugestand und sie hatte großen Hunger  denn seit gestern hatte sie aus Zeitgründen nichts anständiges mehr gegessen  Aber jetzt freute sie sich auf die Einladung zum „Willkommensapéro“ ihrer ehemaligen besten Mitstudentin  Während sie blindlings  den Zebrastreifen überquerte  tippte sie in Google Maps die Adresse ein  Während sie überlegte  ob sie laufen oder mit den Öffis fahren sollte  hörte sie die Hupe eines Autos und eine fluchende Männerstimme  Etwas verwirrt schaute sie in ihr Portemonnaie - die Entscheidung war gefallen  Sie würde sich kein Ticket für die Bahnfahrt leisten können  Nicht  bis sie einen neuen Nebenjob gefunden hätte  Ins Blaue zu kündigen und in eine neue Stadt zu ziehen  war vielleicht das Abenteuerlichste  was sie je gemacht hat und sie fühlte sich dabei so lebendig - für ein Mal nicht an Konsequenzen zu denken  sich für ein Mal wider aller Erwartungen ihres Umfelds für eine Schnapsidee zu entscheiden  Aber diese neue Stadt war für sie genau die Gelegenheit  auf die sie vielleicht schon ihr ganzes Leben gewartet hatte  Eine Möglichkeit  sich neu zu erfinden  auszubrechen aus ihrem bisher ach so langweiligen und vernünftigen Dasein   Und plötzlich wusste sie auch  wie sie sich dieses neue Leben finanzieren könnte  Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen  Doch die Sache hatte einen Haken: Leonie  So oft sie auch darüber nachdachte  kein Weg führte daran vorbei  sich nicht doch bei ihr melden zu müssen  Jetzt oder nie  dachte sie sich  kramte ihr Handy aus der Tasche und tippte die Nummer von Leonie ein  Kurz hielt sie noch inne  starrte die scheinbar willkürliche Zahlenfolge auf dem hellen Display an - wie oft hat sie sie schon eingetippt  wie oft schon angerufen? Jetzt aber lagen nicht Stunden oder Tage  sondern ganze Monate  beinahe ein Jahr zwischen ihnen  „The number you have dialed is not in service“  Eine elektronische Frauenstimme  irgendwie heiter  wiederholte diesen Satz  bis sie sich dazu durch rang  aufzulegen  Unerreichbar  Sie legte das Smartphone zurück auf das Sideboard  blickte in den Spiegel und musterte sich  Ihre Augen sahen müde aus  Später würde sicher jemand abheben  dachte sie  es hatte schließlich immer funktioniert  Was sie jetzt brauchte  war Luft  frische Meeresluft  Sie öffnete die Tür des Bungalows und trat heraus in die letzten Strahlen der Abendsonne  Auf der Fußmatte stand Anton  „Hier dein Buch  Ist ja voll unrealistisch  was da mit dem passiert “ Er streckte ihr nervös eine verknitterte Plastiktüte entgegen  während er sich mit der anderen Hand einen Käfer aus den Haaren zog  Er starrte dem Käfer in die Augen und sagte leise  kaum hörbar: „Wie vergänglich dieses Leben doch ist “ Und steckte sich das kleine Krabbeltier in seinen Mund  um es geräuschvoll zu zerkauen  „Und diese Kritik soll ich von einem Typen wie dir annehmen?“ Sie holt das Buch aus der Plastiktüte und öffnet es  Der Titel des Buches lautete: „Die Vergänglichkeit menschlichen Lebens im Spiegel moderner Zivilluftfahrt “ Im Moment war ihr jede Ablenkung willkommen und begann die ersten paar Seiten zu lesen Bis sie auf eine Stelle stieß  die ihr bekannt vorkam  Sie hob die Augen  Die Stelle im Buch konnte kein Fehldruck sein  War sie nicht viel eher die Stimme eines leisen Wesens  das ihr schon seit Jahren etwas zu sagen versuchte? War die Welt um sie herum nicht plötzlich voller Zeichen  und schwirrten nicht Bedeutungen um sie herum und formten sich zu einem Strudel aus Sinn  in dessen Zentrum sie schweigend sass? Sie liess ihren Blick erneut ins Buch gleiten  doch dieses lag stumm in ihrem Schoss und prahlte mit seinen ach so deutlich gedruckten Buchstaben und seinen viel zu klar gemeinten Sätzen zu diesem allzu menschlichen Verhältnis zur Aviatik  Sie musste sich jetzt endlich entscheiden  Es war so einfach  ihre Finger auf die versehenen Seiten zu legen  Die Druckertinte weichte ihre Fingerspitzen auf  der Geruch haftete sich an sie  die Zeichen  die Worte und die Versprechungen schrieben sich in ihren Körper ein  Sie nahm die Lücke auf  Sich vom Text berühren lassen  wurde ihr wohlig warm  Gestärkt und genährt vom Text  von der schlichten Entscheidung diesem begegnen zu wollen  machte sie sich traurig  das Buch zurücklassen zu müssen  doch im Höhenflug waren Worte von Gewicht hinderliche Anker  Sie hatte ja sich  ihren Körper - womöglich war es ihre Zeit  eine eigene Komposition zu wagen?     Kein Fortsetzungsroman  sondern der Auftakt einer eigenständigen neuen Serie  Klar  mit ein paar Schreibfehlern  holpriger Grammatik und löchrigem Plot hie und da  aber mit einer mitreißenden Geschichte und viel Herzblut     Digitale Faltgeschichte mit Beiträgen von: Adriana  Buchhandlung Labyrinth  Christine Hoffelner  Constanze Geertz  Daniel Koßmann  Denise Dünki  Giulia Romani  Giuseppe Corbino  Hannah Jauch  Jan Schillmöller  Jannike  Jasmin Steffen  Jonas Balmer  Judith Strub  Jul  Katha Baur  Katharina Möller  kerstin_liest  Laura Laschinger  Lela D   Lena Käsermann  Marco Möller  Marianna Vogt  Mira Migisi  Nicole Düpre  Simone Meier  Sophia Elsäßer  Sylvia Niederberger  Valérie Hug  Valeska Marina Stach

„Vielen Dank für die Anmeldung, wir freuen uns, dass du an dem kleinen Schreib-Experiment teilnimmst. Was passiert jetzt? Irgendwann in den nächsten Tagen bekommst du eine E-Mail mit einem kurzen Text darin. Diesen sollst du fortsetzen – was auch immer dir einfällt, ist möglich. Einzige Vorgabe: Du darfst höchstens fünf eigene Sätze schreiben. Dafür hast du 24 Stunden Zeit.”32 Personen meldeten  sich vor einigen Monaten auf unseren Aufruf und erhielten die vorangestellten Anweisungen. Das Ergebnis ihrer Schreibaufgabe können auch sie hier zum allerersten Mal lesen. Denn der folgende Text ist eine digitale Faltgeschichte. Ein kollektiv geschriebener Text. Wie in dem Kinderspiel, bei dem man reihum einen Absatz schreibt und dann den vorherigen umklappt, kannten die Teilnehmenden immer nur den Ausschnitt, den die Person direkt vor ihnen geschrieben hatte. Mit diesen wenigen Informationen mussten sie die Geschichte fortsetzen. Ihr Absatz wurde dann an die nächste Person geschickt usw. usw. …

Das Feuer brannte bis zum nächsten Morgen. Sie hatte sich ausgeruht. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war bereit, aufzubrechen. Die Briefe hatte sie auf dem Tisch fein säuberlich zu einem kleinen Stapel zusammen geschoben, sodass die Ecken bündig übereinander lagen. Sie schloss die Tür hinter sich nicht ab und lief den Weg vom Haus zur Straße, ohne sich umzudrehen.

Unbehagen kam in ihr auf. Würde sie es im Nachhinein bereuen, den Entschluss in dieser radikalen Form umgesetzt zu haben? Mit gespielter Überzeugung verdrängte sie die aufwühlenden Gedanken und summte leise die Melodie, die sie zurück an unbelastete Kindheitstage in den Sommerferien am Meer erinnerte.

Das passte zu ihr. Es passte ganz hervorragend zu dieser Generation alles wegzuschieben. Bis sich Berge von Gedankengängen aufhäufen, die alles unmöglich erscheinen lassen. „Wir leben in unseren Köpfen“, dachte sie.

Wie lange kann man so leben? Abwägen, vergleichen, vermuten und wieder von vorne beginnen, analysieren, überlegen, glauben, verrückt werden. In einem Sumpf immer tiefer versinken, bis man nicht mehr rauskommt und die Gedanken nur noch kreisen, bis sie einen fest umschlingen und der Atem wegbleibt. Es musste etwas geschehen, etwas, das so groß und intensiv war, dass sie zwang, sofort zu  handeln und aus der Gedankenwelt auszubrechen.

Sie griff zu ihrer E-Zigarette, aber ohne Nikotin und geschmacksneutral. Das Paff-Ding, wie sie es nannte, sollte eigentlich für ausgewählte Momente sein, wie etwa ein Bar-Abend, wo alle rauchen oder für ein Festival und nicht im Alltag herhalten. Sie inhalierte ein paar Züge vor sich hin, aber beruhigte sich dadurch kein bisschen. Sie schaute in den Spiegel und untersuchte ihre Zähne, die seit fast einem Jahr keine Nikotinbeläge mehr hatten. Zumindest das war geschafft, dachte sie, packte die E-Zigarette zurück in die Schublade und atmete einmal tief ein und aus.

„Beim Rauchen ohne Nikotin fühle ich mich wie eine Plastikblume, die gegossen wird“ , dachte sie sich. Also zog sie sich in ihr Arbeitszimmer zurück, schaltete das Radio ein und setzte sich auf ihren schwarzen Lieblingssessel mit verstellbarer Rückenlehne, den man eigentlich eher im Wohnzimmer ihres Großvaters vermuten würde als bei einer modernen, geschmackvollen und jungen Frau. Als sie sich vor zwei Jahren von ihrem Freund getrennt hatte und in ihre neue Wohnung am Stadtrand zog, musste sie kurzfristig neue Möbel besorgen und da kam ihr das Lederteil, das bei ihrem ehemaligen Nachbarn Herbert und einem „Zu verschenken“ - Zettel vor der Tür stand, gerade recht. Aus modischen Gründen ist er zwar mittlerweile vom Wohnzimmer ins Arbeitszimmer gewandert, aber nirgendwo konnte sie so gut entspannen wie auf dem Sessel, auf dem der schnauzbärtige Polizist Herbert in den letzten 10 Jahren etliche Folgen Navy CIS gesehen und gefühlt alle Biathlonweltcups im Fernsehen verfolgt hatte. Dieses Mal war sie so aufgebracht, dass sie selbst in ihrem geliebten Sessel nicht zur Ruhe finden konnte, doch als sie im Radio den Bericht über den geplanten Krankenhausbau im Neubaugebiet hörte, kam ihr eine Idee.

Sie würde eine Pension für Angehörige eröffnen und den Fehler von damals korrigieren. Angehörige wurden immer vergessen. Alles drehte sich um den Kranken und die Krankheit, dass da möglicherweise eine ganze Familie dranhing, die genauso litt, mindestens, ja, das wusste man, aber darüber setzte man sich hinweg, meinte sich hinwegsetzen zu müssen, schon aus praktischen Erwägungen. Damit wäre es vorbei in ihrer Pension neben dem neuen Krankenhaus. Sie schmiegte sich tiefer in ihren alten Stressless-Sessel und genoss ihren Plan, als wäre er bereits Realität: Gäste fragten nach Rat, dankten ihr überschwänglich, lagen ihr in den Armen, endlich war sie kein lästiges angehöriges Anhängsel mehr, sie war diejenige, die allen ein Obdach gab, allen, die es verdient hatten; die Überlegenheit der Kranken durch ihre Krankheit war außer Kraft gesetzt, endlich.

Die Euphorie währte jedoch nur kurze Zeit, denn all ihre schönen Pläne wurden eines Tages zunichte gemacht. Es geschah, worüber sie nie hatte nachdenken mögen und womit sie daher in ihrer Naivität gar nicht rechnete: Die Kranke verstarb ganz plötzlich! Starb einfach so, ohne das wahrscheinlich ihr allein noch bekannte düstere Geheimnis preiszugeben, ohne auch nur ein Wort des Abschieds zu äußern. Und das Krankenhaus war mit einem Mal wieder ein fremder, bedeutungsloser Ort für unsere Heldin, von dem sie so schnell wie möglich fort wollte...

VIII

Die Vorstellung, mit einer Kranken zu leben, löste damals, als Sibylle ihr von der Stelle auf dem Zürichberg erzählte, zuerst Übelkeit aus. Ihr Geruchssinn war hochsensibel, sie roch normalerweise Krankheiten, noch bevor sie ausbrachen. Die Notlage, in die sie - durch ihre Unachtsamkeit mit all den fatalen Folgen - geraten war, zwang sie jedoch, schnell eine neue Bleibe zu finden und dieses Stellenangebot fühlte sich nach anfänglicher Skepsis an wie ein Lottogewinn.  Die alleinstehende Nachbarin von Sibylles Eltern hatte auf Grund einer Diabetes-Erkrankung Probleme mit dem Augenlicht bekommen und suchte eine Frau, die ihre Bonsai-Sammlung akribisch pflegte, täglich die Blutzuckerwerte ablas, das Insulin berechnete und dafür kostenlos im Zimmer ihrer verstorbenen Schwester leben konnte. Gefordert waren Geschicklichkeit, ausgeprägte botanische Interessen und die strikte Unterlassung von unnötigem Geschwätz.

Letzteres war eine echte Herausforderung, denn nachdem sie jahrelang nichts zu erzählen hatte, sprudelten ihre Gedanken heute schneller über ihre wohlgeformten Lippen, als dass sie noch rechtzeitig hätten sortiert werden können. Das war zwar anstrengend für die sorgfältig ausgewählten Zuhörerinnen, die allerdings mit etwas gutem Willen eine unglaublich reiche und bunte Geruchswelt erfahren konnten.Für andere war es schlichtes Geschwätz, doch sie fragte sich, ob Mini-Bäume da einen Unterschied machen würden, ob sie nicht alle warmen Worte gleichermaßen zum Gedeihen nutzten? Ihre Lage hatte sie als Therapeutin sich selbst zuzuschreiben, im Krankenhaus hätte sie sich nicht in die Behandlung einzumischen, auch wenn ihre Nase ihr stets zuverlässig verraten konnte, was den Patientinnen der Gynäkologie im Grunde fehlte. So zog sie also mitten im August in das kleine, von Schwere durchzogene Zimmer dieser fast blinden Frau auf dem Zürichberg, wissend, dass sie die Sehnsucht nach dem Türkisblau der seidenkühlen Aare mitten durch Bern, ihre Herzensstadt, nicht würde überwinden können.

Es war dann ein Freitag. Tags zuvor veranstaltete die Gynäkologiestation ihr wegen einen Abschiedsapéro, überreichten ihr einer dieser überprunkvollen Blumensträuße und ein Büchergutschein - in einem guten Buch kann man schneller als an einem fremden Ort Heimat finden, sagten sie. Am Morgen fuhr der Zügelwagen vor, bald war ihr Zimmer in diesem Auto verstaut und verschwand hinter der Ecke - sie stand noch auf der Gasse, wohlwissend bald den Zug nach Zürich nehmen zu müssen, wo ein kleines leeres Zimmer und ein in Kartonschachteln verpacktes Zimmer darauf warten, zusammengeführt werden.

Das Zugticket hatte sie absichtlich erst für den frühen Nachmittag reserviert. Sie wollte diesen Moment für sich haben. Noch ein letztes Mal die Wohnung und das leergeräumte Zimmer durchstreifen, das so lange ihr Zuhause war. Ein letzter Blick aus dem Dachfenster über die nahegelegen Gleise werfen und dabei eine Nebelschwade einfangen oder ein blinkendes Lichtsignal. Ihre Hand berührte die kühle Hauswand hinter ihrem Rücken und sie dachte an Zürich und alles, was noch sein kann.

Mit einem kleinen Anflug von Wehmut und einem viel größeren Gefühl der Vorfreude auf den bevorstehenden Sprung ins Ungewisse trat sie nun durch die Wohnungstür und stieg zügig die Treppenstufen hinunter. Kein einziges Mal blickte sie zurück, auch in Gedanken war sie bereits weit vorne. Würden die sorgfältig geplanten nächsten Tage glatt verlaufen? Und was kommt danach?  Beim in die Jahre gekommenen Bahnhofsgebäude angekommen, schaute sie auf die Uhr. Pünktlich wie immer.

XIII

Der geneigte Leser fragt sich an dieser Stelle möglicherweise, ob ihr Perfektionismus auf der einen Seite und der Mut, ein völlig neues Leben zu beginnen, auf der anderen Seite sich nicht grundsätzlich widersprechen. Auch ihr war diese Ambivalenz sehr bewusst, als sie auf den Zug zumarschierte. Sie hatte zwar die nächsten Tage sorgfältig planen können, wie schnell sie aber in der neuen Stadt ohne Freunde, ohne Job und ohne Wohnung Fuß fassen würde, stand noch in den Sternen. Sie stieg in den Zug ein und suchte ihren Sitzplatz. „Oh Paris, bald bin ich bei dir“, dachte sie, schloss die Augen und spürte, wie der Zug rumpelnd anfuhr.

In Gedanken reflektierte sie die letzten Stunden ihres ‚alten Lebens‘ und drückte sich dabei zufrieden in den komfortablen Sessel der ersten Klasse. Wage nahm sie die Durchsage mit der freundlichen männlichen Stimme wahr, die die wichtigsten Reiseinformationen ankündigte. Plötzlich wurde sie abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Ein Mann tippte auf ihre Schulter: „Entschuldigen Sie die Störung, aber beim Einsteigen haben Sie etwas verloren.“ Er lächelte zaghaft und überreichte ihr einen roten Umschlag.

In seinem von Falten gezeichneten Gesicht meinte sie, all die Geschichten zu erkennen, die sich darin einschrieben. Wäre sie in einer ähnlichen Weise alt geworden? In ihrem „alten Leben“ sicher nicht, wohl aber mit dem, was nun vor ihr lag, mit der Freiheit, die nun zum Greifen nah war. Sie nahm den Umschlag, einen Brief, den sie sich vor ihrem Aufbruch selbst schrieb, um sich daran zu erinnern, warum sie sich auf diesen Weg begab.

Er hatte sie durch ungeahnte Höhen und Tiefen geführt hatte, sie fliegen und fallen gelassen, sie auf- und niedergeworfen, nur um sie schließlich, die Augen voll Horror und das Herz voll Empathie, auferstehen zu lassen. Sie hatte sich wieder gefunden, sie liebte sich. Sie liebte sich endlich wieder.

XVII

Zurückgewonnene Liebe, zurückgewonnener Mut, zurückgewonnene Freiheit. So musste es sich anfühlen, zu den Siegertypen zu gehören, nur dass das hier nicht ihr Ziel, sondern erst der Anfang von etwas Neuem war. Wie würde eine Trophäe aussehen, welche sie sich in eine gläserne Vitrine stellen würde, so wie es Sieger machten, auf die sie auch noch dreißig Jahre später zeigen und stolz ihren Nachkommen berichten, wie sie es zu diesem Sieg geschafft hatten und vor der auch ehrfurchtsvoll fremde Menschen stehen bleiben würden und sie als Ansporn, als Inspiration, als Vorbild nehmen würden. Sie, die zu sich, zu ihrer inneren Stärke, gefunden hat, weil sie ihre eigene Siegerin war und sich diese Auszeichnung verdient hat, als Zeichen des Triumphs, sich wiedergefunden zu haben, in all den Höhen und Tiefen nicht verloren gegangen zu sein. Ein organischer Pokal müsse es sein, dort in der Vitrine, ein Organismusglied, welches sinnbildlich zeigen würde, wie lebendig sie sich fühlte, im harmonischen Zusammenwirken von Körper und Geist.

XVIII

Ein zufriedenes Seufzen drang zwischen ihren Lippen hervor, als sie den Schraubenzieher in den Werkzeugkasten legte. Sie schloss die gläsernen Türen der Vitrine, betrachtete einen Moment lang ihr eigenes Spiegelbild im Glas. Ein Bett, ein Nachtschränkchen, ein ausgefranster Teppich und jetzt auch eine Vitrine. Staubflocken tanzten träge im Licht der Sonnenstrahlen, die durch das Fenster in das schmale Zimmer fielen. Es war ein Anfang.

Erschrocken von ihrer eigenen Gedankenlosigkeit taumelte sie einige Schritte zurück und stieß dabei gegen die auf dem Boden verteilten halb ausgeräumten Kisten. Darin stapelten sich ungelesene Bücher über Selbstoptimierung, umrahmt von Ordnern mit unsortierten Mitschriften aus ihrem Studium, die leeren Räume dazwischen ausgestopft mit den ungewaschenen Shirts und Socken, die sie aus ihrer alten Wohnung hatte retten können. Sie brauchte diesen Neuanfang mehr als sie zugeben wollte. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, die Uhr zeigte bereits zehnuhrachtundzwanzig, packte sie hastig einige Sachen zusammen - einen Kugelschreiber, mehrere Boulevardmagazine, ihr Feuerzeug, einen Abzug ihres Lieblingsfotos - und verließ die Wohnung. Der Revolver zwischen den Büchern, neben den Ordnern, unter den Shirts verblieb regungslos zurück - eine Erinnerung daran, dass manchmal das, was wir hinter uns lassen, genauso bedeutend ist wie das, was wir mit uns tragen.

Der Umzug hatte sie enorme Kräfte gekostet, mehr als sie sich zugestand und sie hatte großen Hunger, denn seit gestern hatte sie aus Zeitgründen nichts anständiges mehr gegessen. Aber jetzt freute sie sich auf die Einladung zum „Willkommensapéro“ ihrer ehemaligen besten Mitstudentin. Während sie blindlings  den Zebrastreifen überquerte, tippte sie in Google Maps die Adresse ein. Während sie überlegte, ob sie laufen oder mit den Öffis fahren sollte, hörte sie die Hupe eines Autos und eine fluchende Männerstimme. Etwas verwirrt schaute sie in ihr Portemonnaie - die Entscheidung war gefallen.

Sie würde sich kein Ticket für die Bahnfahrt leisten können. Nicht, bis sie einen neuen Nebenjob gefunden hätte. Ins Blaue zu kündigen und in eine neue Stadt zu ziehen, war vielleicht das Abenteuerlichste, was sie je gemacht hat und sie fühlte sich dabei so lebendig - für ein Mal nicht an Konsequenzen zu denken, sich für ein Mal wider aller Erwartungen ihres Umfelds für eine Schnapsidee zu entscheiden.

XXII

Aber diese neue Stadt war für sie genau die Gelegenheit, auf die sie vielleicht schon ihr ganzes Leben gewartet hatte. Eine Möglichkeit, sich neu zu erfinden, auszubrechen aus ihrem bisher ach so langweiligen und vernünftigen Dasein. Und plötzlich wusste sie auch, wie sie sich dieses neue Leben finanzieren könnte. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen.

XXIII

Doch die Sache hatte einen Haken: Leonie. So oft sie auch darüber nachdachte, kein Weg führte daran vorbei, sich nicht doch bei ihr melden zu müssen. Jetzt oder nie, dachte sie sich, kramte ihr Handy aus der Tasche und tippte die Nummer von Leonie ein. Kurz hielt sie noch inne, starrte die scheinbar willkürliche Zahlenfolge auf dem hellen Display an - wie oft hat sie sie schon eingetippt, wie oft schon angerufen? Jetzt aber lagen nicht Stunden oder Tage, sondern ganze Monate, beinahe ein Jahr zwischen ihnen.

XXIV

„The number you have dialed is not in service“. Eine elektronische Frauenstimme, irgendwie heiter, wiederholte diesen Satz, bis sie sich dazu durch rang, aufzulegen. Unerreichbar.

Sie legte das Smartphone zurück auf das Sideboard, blickte in den Spiegel und musterte sich. Ihre Augen sahen müde aus. Später würde sicher jemand abheben, dachte sie, es hatte schließlich immer funktioniert. Was sie jetzt brauchte, war Luft, frische Meeresluft. Sie öffnete die Tür des Bungalows und trat heraus in die letzten Strahlen der Abendsonne.

XXVI

Auf der Fußmatte stand Anton. „Hier dein Buch. Ist ja voll unrealistisch, was da mit dem passiert.“ Er streckte ihr nervös eine verknitterte Plastiktüte entgegen, während er sich mit der anderen Hand einen Käfer aus den Haaren zog.

XXVII

Er starrte dem Käfer in die Augen und sagte leise, kaum hörbar: „Wie vergänglich dieses Leben doch ist.“ Und steckte sich das kleine Krabbeltier in seinen Mund, um es geräuschvoll zu zerkauen. „Und diese Kritik soll ich von einem Typen wie dir annehmen?“ Sie holt das Buch aus der Plastiktüte und öffnet es.

XXVIII

Der Titel des Buches lautete: „Die Vergänglichkeit menschlichen Lebens im Spiegel moderner Zivilluftfahrt.“ Im Moment war ihr jede Ablenkung willkommen und begann die ersten paar Seiten zu lesen.Bis sie auf eine Stelle stieß, die ihr bekannt vorkam. Sie hob die Augen.

XXIX

Die Stelle im Buch konnte kein Fehldruck sein. War sie nicht viel eher die Stimme eines leisen Wesens, das ihr schon seit Jahren etwas zu sagen versuchte? War die Welt um sie herum nicht plötzlich voller Zeichen, und schwirrten nicht Bedeutungen um sie herum und formten sich zu einem Strudel aus Sinn, in dessen Zentrum sie schweigend sass? Sie liess ihren Blick erneut ins Buch gleiten, doch dieses lag stumm in ihrem Schoss und prahlte mit seinen ach so deutlich gedruckten Buchstaben und seinen viel zu klar gemeinten Sätzen zu diesem allzu menschlichen Verhältnis zur Aviatik. Sie musste sich jetzt endlich entscheiden.

Es war so einfach, ihre Finger auf die versehenen Seiten zu legen. Die Druckertinte weichte ihre Fingerspitzen auf, der Geruch haftete sich an sie; die Zeichen, die Worte und die Versprechungen schrieben sich in ihren Körper ein. Sie nahm die Lücke auf. Sich vom Text berühren lassen, wurde ihr wohlig warm. Gestärkt und genährt vom Text, von der schlichten Entscheidung diesem begegnen zu wollen, machte sie sich traurig, das Buch zurücklassen zu müssen, doch im Höhenflug waren Worte von Gewicht hinderliche Anker. Sie hatte ja sich, ihren Körper - womöglich war es ihre Zeit, eine eigene Komposition zu wagen?

XXXI

... Kein Fortsetzungsroman, sondern der Auftakt einer eigenständigen neuen Serie. Klar, mit ein paar Schreibfehlern, holpriger Grammatik und löchrigem Plot hie und da, aber mit einer mitreißenden Geschichte und viel Herzblut ...

XXXII

Digitale Faltgeschichte mit Beiträgen von: Adriana, Buchhandlung Labyrinth, Christine Hoffelner, Constanze Geertz, Daniel Koßmann, Denise Dünki, Giulia Romani, Giuseppe Corbino, Hannah Jauch, Jan Schillmöller, Jannike, Jasmin Steffen, Jonas Balmer, Judith Strub, Jul, Katha Baur, Katharina Möller, kerstin_liest, Laura Laschinger, Lela D., Lena Käsermann, Marco Möller, Marianna Vogt, Mira Migisi, Nicole Düpre, Simone Meier, Sophia Elsäßer, Sylvia Niederberger, Valérie Hug, Valeska Marina Stach

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Faltgeschichte

Das Ausbleiben der Schwalben Im selben Frühjahr  in dem ich nicht nach Kalifornien flog  rief mich eine gute Freundin an  Elisabeth ist eine Generation älter als ich und war mal meine Geschichtslehrerin  Sie kommt  wie ich  von einem Hof in Schleswig-Holstein und lebt in einem Haus mit Scheunenanbau  Elisabeth sprach mit merkwürdig klangloser Stimme  wie aus einer Welt ohne Echo  »Eva«  sagte sie  »dieses Jahr sind bei mir die Schwalben nicht gekommen « Stille  »Jetzt ist es wirklich vorbei«  sagte sie  nicht mal klagend  sondern als lese sie ein Messergebnis ab  »Jetzt erwarte ich gar nichts mehr «  Der australische Naturphilosoph Glenn Albrecht hat 2005 den Begriff der »Solastalgie« geschaffen  um das Trauma zu beschreiben  das durch den Verlust der vertrauten ökologischen Umwelt entsteht  Nostalgie  aber in Echtzeit: eine Sehnsucht nicht nach Vergangenem  sondern nach dem  was man für unverrückbar gegenwärtig hielt  Das Wort  das aus dem lateinischen »solacium« – Trost – und dem griechischen »algia« – Leid – zusammengebaut ist  kommt einem nicht gerade leicht über die Lippen  »Leiden an Trostlosigkeit«: Das beschreibt nicht schlecht  was Menschen in einer  Welt befällt  Aber der Neologismus macht mich stutzig  weil in ihm so viel fehlt  Es kommt weder die Welt vor  auf die sich die Sehnsucht richtet  noch der Grund ihres Verlusts  Sie stirbt schließlich nicht von allein  Die Schwalben verhungern am Insektensterben  In längeren Trockenperioden kommen sie nicht zum Nestbau  weil es Pfützen braucht  um Matschbällchen aufzusammeln  In manchen Regionen werden Singvögel auch direkt gejagt  Solastalgie benennt keine Schuldigen  nicht mal Ursachen  Kein Wort von Insektiziden  industriellem CO2-Ausstoß und Luftgewehren  Dabei ist das Heimweh ja auch ein anderes  wenn man vertrieben wurde und nicht aus eigenem Antrieb umzog   Vielleicht wäre »Weltschmerz« eine bessere Kategorie als Solastalgie  weil damit immerhin betont würde  dass es um einen Gesamtzusammenhang geht und nicht um einen einzelnen Ort  dem man immer noch den Rücken kehren kann  Die Scheune steht noch  Dennoch ist für Elisabeth die Zeit stehen geblieben  Nicht die auf der Uhr  die ja auch am Arm einer Leiche weiterläuft  sondern die belebte  erlebbare Zeit  Die Zeit  in der Jahre mit Ankunft und Abflug der Schwalben zusammenfallen: Sie wurde zerstört  Der Schock über das Ausbleiben der vier vertrauten Brutpaare betrifft dabei nicht nur acht Vögel und ihre Nachzucht  sondern ist Anzeichen des sechsten   Die Trostlosigkeit entsteht nicht  weil über diesen Verlust nichts hinweghelfen kann  sondern weil er eben nicht nur dieser eine Verlust ist  Das  was beim normalen Trauma innerpsychische Zwangsvorstellung ist – dass es immer wieder so sein wird –  hat hier naturwissenschaftlich belegte Realität   Angesichts dieser Realität ist auch der Anklang von »Solastalgie« an »Nostalgie« skandalös  Man meint fast schon mitzuhören  dass es für die bessergestellten Schichten in den bessergestellten Ländern bald ein paar Regierungsprogramme zur Solastalgie-Kur gibt  Forschung zu Resilienzfaktoren bezuschusst werden wird – und ansonsten kann man immer noch sagen  dass solche Sentimentalitäten wie die unersetzbare Ortsbindung überwunden gehören  Die Moderne hat uns schließlich keinen Trost versprochen  sondern Freiheit   Aber war es die ganze Freiheit? Fehlt ihr nicht etwas sehr Entscheidendes? Hängt unsere Freiheit nicht vom Fortbestand der lebendigen Welt ab? Besteht sie nicht geradezu darin? Die Freude der Schwalben Um die Freiheit mit dem Leben zu verknüpfen  muss man sie zeitlich denken  Das wiederum wirft die Frage auf  was wir unter »Zeit« verstehen  Der Moment des Bleibens erschien mir befreiend  weil er mir unverhofft Zeit verschaffte  Und dazu die Bestätigung  gern an meinem Wohnort zu verweilen  Aber da war eben noch mehr  Da waren die ankommenden Zugvögel  In gewisser Weise sind die Schwalben Teil des Orts  Aber vielleicht ist das die falsche Perspektive  vielleicht ist es genau umgekehrt  vielleicht ist ein Ort nichts anderes als das: der Knotenpunkt etlicher zeitlicher Kreisläufe  Nicht nur die Mauer  sondern die Frühlingssonnenstrahlen darauf und die blühenden Birnbäume davor  All das ist Zeit  Nicht meine  aber mir entgegenkommende  Jahreszeitliche Migrationszyklen der Zugvögel  tageszeitliche Sonnenstände  Vegetationsperioden  Und selbst die Mauer  ein Gebilde aus etlichen Zeitspannen: roter Lehm aus der eiszeitlichen Erdschicht  die Hitze von vor zweihundert Jahren verkohltem Holz  die Arbeit von Händen  denen wiederum zugearbeitet wurde  Wo es nicht um die einmalige Spanne einer individuellen Lebenszeit geht  sondern um Natur  kann man diese Zeit als zyklisch beschreiben  Nicht bloße Zeit  keine leere Zukunft  sondern Gezeiten  eine Fülle  Und das ist es  was zeitlich verstandene Freiheit bedeuten könnte: eine Fülle an Zeit und Gezeiten  Um wirkliche Freiheit zu gewähren  muss freie Zeit zugleich erfüllte Zeit sein  Innerlich kennen wir das gut  es ist der Unterschied zwischen Langeweile und Erleben  zwischen bleierner Zeit und mit Machbarem und Wünschenswertem gefüllter Zeit  Aber was unsere Zeit füllt  entspringt nicht aus uns selbst  Erfüllte Zeit  das ist auch das Leben in einer Zeit der Fülle   Die Freude an der Rückkehr der Schwalben ist älter als ihre Bedrohung  Im Horror des sechsten  stehen die Rauchschwalben als Gattung sogar noch halbwegs gut da  Sie sind anpassungsfähig  sie können ihre Flugrouten ändern  Die uns vertraute Hirundo rustica ist derzeit »nur« auf der Vorwarnstufe der Roten Liste  Es ist jedoch auch ohne  für jedes dieser zwanzig Gramm schweren Tierchen mit dem roten Kehlfleck und den elegant gegabelten Schwanzfedern ein kleines Wunder  durchzukommen  Bleibefreiheit verweist auf die einzigartige Möglichkeit  ihrer Ankunft beizuwohnen  diesen Moment der Freude und Erleichterung nicht zu verpassen  Zehntausend Kilometer Wind und Wetter  und plötzlich sind sie wieder da  wohlbehalten   Die Freude an der Ankunft der Schwalben ist ein Echo aus der Zeit  in der man durch den Winter darbte und mit kaltgefrorenen Gliedern die üppige Jahreszeit ersehnte  Die Schwalben waren die Boten der materiellen Gezeitenfülle  Aber darin geht die Freude an ihnen nicht vollkommen auf  Dass es wärmer wird  merkt man im Zweifelsfall auch ohne Schwalben  Die Schwalben ermöglichen einen zusätzlichen Moment des Innehaltens  einen Moment der Faszination an dieser besonderen Facette des Lebens  Etwas an ihrem freudigen Pfeifkonzert ist ansteckend  Es spricht uns an  auch wenn wir es nicht übersetzen können  Michel de Montaigne  der vor über vierhundert Jahren philosophierte  sah in den Schwalben sogar eine gewisse Freiheit walten  Er unterstellt ihnen die Urteilsfähigkeit  einen bestimmten Ort zu Bejahen  »Die Schwalben  die wir bei der Wiederkehr des Frühlings alle Winkel unserer Häuser durchstöbern sehn  suchen sie sich wohl ohne Urteils- und Unterscheidungsvermögen von tausend Stellen eigens jene aus  die ihnen am wohnlichsten scheint?«  Die Schwalben sind Kulturfolger  Anders als anderen Wildtieren ginge es ihnen nicht besser  wenn wir uns einfach wegdenken  Es sind unsere Gemäuer  die ihnen wohnlich scheinen  und die in unserem Mist gedeihenden Insekten  die ihnen munden  Wir müssen gar nichts weiter tun  Ihre Lebensbedingungen ergeben sich quasi nebenbei aus den unseren  Dieses Verhältnis ist ein Beispiel für eine gelingende Kreislaufwirtschaft  in der verschiedene Elemente einander Regeneration gewähren  Und das nicht durch mühevolle Sorge- und Reparaturarbeit  sondern nahezu anstrengungslos  Die Schwalben teilen unsere Zeit  ohne dass wir dafür Zeit verlören  Und wir können uns an den Schwalben freuen  einfach so  ohne dass es sie etwas kostet  Diese Freiheit eines sich zwanglos perpetuierenden Zusammenspiels durchzieht die in Zeitspannen von Hunderttausenden Jahren evolutionär ausbalancierten Ökosysteme unseres Planeten  Unser Geschichtsbild ebenso wie das gegenwärtige Wirtschaftssystem sind konzipiert  als sei das ein unverbrüchlich gegebener Hintergrund  Dabei ist Fülle in Wahrheit ein fragiles Unterfangen  Es gibt sie  wo die Gezeiten gut abgestimmt sind  es gibt sie im scheinbar mühelosen Zusammenleben der Schwalben mit uns  das allein uns aber auch noch nicht satt machen würde  Absolut alle Freiheit der Zukunft – selbst noch die  einfach nur wegzukönnen – hängt davon ab  für wie viele unserer Versorgungskreisläufe es gelingt  derart regenerative Verhältnisse zu sichern  Der Anspruch auf volle Bleibefreiheit rückt diese Frage in den Mittelpunkt  Kann ich hier und frei bleiben? Können wir auf diesem Planeten leben  ohne in ständigem  nur mühsam seinen Katastrophen entgegenzuarbeiten  können wir hier so bleiben  dass wir auch frei bleiben  dass wir Zeit im Überfluss genießen  dass wir hinaufschauen können in einen Himmel  in dem Schwalben tanzen?  Vielleicht ist die Freude der Schwalbenankunft gar nicht unsere Freude  sondern ihre  Vielleicht überträgt sich der Jubel der Schwalben auf uns  Sie besingen ihr Glück  nach beschwerlicher Reise einen Ort gefunden zu haben  an dem sie vorerst bleiben können  Wir teilen ihre Freude  Und genießen unsere eigene Freiheit  Textauszug aus: Eva von Redecker  Bleibefreiheit  © S  Fischer Verlag GmbH  Frankfurt am Main  2023  Eva von Redecker (*1982) ist Philosophin und freie Autorin  Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und als Gastwissenschaftlerin an der Cambridge University sowie der New School for Social Research in New York tätig  2020/2021 hatte sie ein Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiatium an der Universität von Verona inne  wo sie zur Geschichte des Eigentums forschte  Eva von Redecker beschäftigt sich mit Kritischer Theorie  Feminismus und Kapitalismuskritik  schreibt Beiträge für u a  Die ZEIT und ist regelmässig in Rundfunk- und TV-Interviews zu hören  Seit Herbst 2022 richtet sie am Schauspiel Köln die philosophische Gesprächsreihe Eva and the Apple aus  Beim S  Fischer Verlag erschienen sind zuletzt die Monographien: Revolution für das Leben  Philosophie der neuen Protestformen (2020) sowie ihr Buch Bleibefreiheit (2023) 

Selten wurde Freiheit so intensiv diskutiert wie in der Pandemie: die Freiheit zu reisen, sich uneingeschränkt zu bewegen, Menschen dort zu treffen, wo man möchte. Doch wie zukunftsfähig ist ein derart räumlich abgesteckter Freiheitsbegriff, da wir Zeiten entgegensehen, in denen die Orte schwinden, an denen es sich leben lässt und Klimakrise oder Kriege ganze Landstriche unbewohnbar machen? Die Philosophin Eva von Redecker denkt Freiheit darum ganz neu: als die Freiheit, an einem Ort zu leben, an dem wir bleiben könnten. Bleibefreiheit entfaltet sich zeitlich. Als auch künftig lebbare Freiheit rückt sie nicht nur die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen in den Blick, sie verringert auch den Abstand zwischen dem Freisein Einzelner und ihrer Gemeinschaft. Bleibefreiheit lässt sich nur gemeinsam herstellen. Und sie wächst, wenn wir sie teilen.Der folgende Ausschnitt sind zwei Paragraphen aus dem Kapitel Die Ankunft der Schwalben, in dem Eva von Redecker Verbindungslinien zwischen uns und den Zugvögeln zieht, um daraus Parameter für einen neuen Freiheitsbegriff abzuleiten.

Im selben Frühjahr, in dem ich nicht nach Kalifornien flog, rief mich eine gute Freundin an. Elisabeth ist eine Generation älter als ich und war mal meine Geschichtslehrerin. Sie kommt, wie ich, von einem Hof in Schleswig-Holstein und lebt in einem Haus mit Scheunenanbau. Elisabeth sprach mit merkwürdig klangloser Stimme, wie aus einer Welt ohne Echo. »Eva«, sagte sie, »dieses Jahr sind bei mir die Schwalben nicht gekommen.« Stille. »Jetzt ist es wirklich vorbei«, sagte sie, nicht mal klagend, sondern als lese sie ein Messergebnis ab. »Jetzt erwarte ich gar nichts mehr.« Der australische Naturphilosoph Glenn Albrecht hat 2005 den Begriff der »Solastalgie« geschaffen, um das Trauma zu beschreiben, das durch den Verlust der vertrauten ökologischen Umwelt entsteht. Nostalgie, aber in Echtzeit: eine Sehnsucht nicht nach Vergangenem, sondern nach dem, was man für unverrückbar gegenwärtig hielt. Das Wort, das aus dem lateinischen »solacium« – Trost – und dem griechischen »algia« – Leid – zusammengebaut ist, kommt einem nicht gerade leicht über die Lippen. »Leiden an Trostlosigkeit«: Das beschreibt nicht schlecht, was Menschen in einer sterbenden Welt befällt. Aber der Neologismus macht mich stutzig, weil in ihm so viel fehlt. Es kommt weder die Welt vor, auf die sich die Sehnsucht richtet, noch der Grund ihres Verlusts. Sie stirbt schließlich nicht von allein. Die Schwalben verhungern am Insektensterben. In längeren Trockenperioden kommen sie nicht zum Nestbau, weil es Pfützen braucht, um Matschbällchen aufzusammeln. In manchen Regionen werden Singvögel auch direkt gejagt. Solastalgie benennt keine Schuldigen, nicht mal Ursachen. Kein Wort von Insektiziden, industriellem CO2-Ausstoß und Luftgewehren. Dabei ist das Heimweh ja auch ein anderes, wenn man vertrieben wurde und nicht aus eigenem Antrieb umzog. Vielleicht wäre »Weltschmerz« eine bessere Kategorie als Solastalgie, weil damit immerhin betont würde, dass es um einen Gesamtzusammenhang geht und nicht um einen einzelnen Ort, dem man immer noch den Rücken kehren kann. Die Scheune steht noch. Dennoch ist für Elisabeth die Zeit stehen geblieben. Nicht die auf der Uhr, die ja auch am Arm einer Leiche weiterläuft, sondern die belebte, erlebbare Zeit. Die Zeit, in der Jahre mit Ankunft und Abflug der Schwalben zusammenfallen: Sie wurde zerstört. Der Schock über das Ausbleiben der vier vertrauten Brutpaare betrifft dabei nicht nur acht Vögel und ihre Nachzucht, sondern ist Anzeichen des sechsten Massenaussterbens. Die Trostlosigkeit entsteht nicht, weil über diesen Verlust nichts hinweghelfen kann, sondern weil er eben nicht nur dieser eine Verlust ist. Das, was beim normalen Trauma innerpsychische Zwangsvorstellung ist – dass es immer wieder so sein wird –, hat hier naturwissenschaftlich belegte Realität. Angesichts dieser Realität ist auch der Anklang von »Solastalgie« an »Nostalgie« skandalös. Man meint fast schon mitzuhören, dass es für die bessergestellten Schichten in den bessergestellten Ländern bald ein paar Regierungsprogramme zur Solastalgie-Kur gibt, Forschung zu Resilienzfaktoren bezuschusst werden wird – und ansonsten kann man immer noch sagen, dass solche Sentimentalitäten wie die unersetzbare Ortsbindung überwunden gehören. Die Moderne hat uns schließlich keinen Trost versprochen, sondern Freiheit. Aber war es die ganze Freiheit? Fehlt ihr nicht etwas sehr Entscheidendes? Hängt unsere Freiheit nicht vom Fortbestand der lebendigen Welt ab? Besteht sie nicht geradezu darin?

Um die Freiheit mit dem Leben zu verknüpfen, muss man sie zeitlich denken. Das wiederum wirft die Frage auf, was wir unter »Zeit« verstehen. Der Moment des Bleibens erschien mir befreiend, weil er mir unverhofft Zeit verschaffte. Und dazu die Bestätigung, gern an meinem Wohnort zu verweilen. Aber da war eben noch mehr. Da waren die ankommenden Zugvögel. In gewisser Weise sind die Schwalben Teil des Orts. Aber vielleicht ist das die falsche Perspektive, vielleicht ist es genau umgekehrt, vielleicht ist ein Ort nichts anderes als das: der Knotenpunkt etlicher zeitlicher Kreisläufe. Nicht nur die Mauer, sondern die Frühlingssonnenstrahlen darauf und die blühenden Birnbäume davor. All das ist Zeit. Nicht meine, aber mir entgegenkommende. Jahreszeitliche Migrationszyklen der Zugvögel, tageszeitliche Sonnenstände, Vegetationsperioden. Und selbst die Mauer, ein Gebilde aus etlichen Zeitspannen: roter Lehm aus der eiszeitlichen Erdschicht, die Hitze von vor zweihundert Jahren verkohltem Holz, die Arbeit von Händen, denen wiederum zugearbeitet wurde. Wo es nicht um die einmalige Spanne einer individuellen Lebenszeit geht, sondern um Natur, kann man diese Zeit als zyklisch beschreiben. Nicht bloße Zeit, keine leere Zukunft, sondern Gezeiten, eine Fülle. Und das ist es, was zeitlich verstandene Freiheit bedeuten könnte: eine Fülle an Zeit und Gezeiten. Um wirkliche Freiheit zu gewähren, muss freie Zeit zugleich erfüllte Zeit sein. Innerlich kennen wir das gut, es ist der Unterschied zwischen Langeweile und Erleben; zwischen bleierner Zeit und mit Machbarem und Wünschenswertem gefüllter Zeit. Aber was unsere Zeit füllt, entspringt nicht aus uns selbst. Erfüllte Zeit, das ist auch das Leben in einer Zeit der Fülle. Die Freude an der Rückkehr der Schwalben ist älter als ihre Bedrohung. Im Horror des sechsten Massenaussterbens stehen die Rauchschwalben als Gattung sogar noch halbwegs gut da. Sie sind anpassungsfähig, sie können ihre Flugrouten ändern. Die uns vertraute Hirundo rustica ist derzeit »nur« auf der Vorwarnstufe der Roten Liste. Es ist jedoch auch ohne Weltuntergang für jedes dieser zwanzig Gramm schweren Tierchen mit dem roten Kehlfleck und den elegant gegabelten Schwanzfedern ein kleines Wunder, durchzukommen. Bleibefreiheit verweist auf die einzigartige Möglichkeit, ihrer Ankunft beizuwohnen, diesen Moment der Freude und Erleichterung nicht zu verpassen. Zehntausend Kilometer Wind und Wetter, und plötzlich sind sie wieder da, wohlbehalten. Die Freude an der Ankunft der Schwalben ist ein Echo aus der Zeit, in der man durch den Winter darbte und mit kaltgefrorenen Gliedern die üppige Jahreszeit ersehnte. Die Schwalben waren die Boten der materiellen Gezeitenfülle. Aber darin geht die Freude an ihnen nicht vollkommen auf. Dass es wärmer wird, merkt man im Zweifelsfall auch ohne Schwalben. Die Schwalben ermöglichen einen zusätzlichen Moment des Innehaltens, einen Moment der Faszination an dieser besonderen Facette des Lebens. Etwas an ihrem freudigen Pfeifkonzert ist ansteckend. Es spricht uns an, auch wenn wir es nicht übersetzen können. Michel de Montaigne, der vor über vierhundert Jahren philosophierte, sah in den Schwalben sogar eine gewisse Freiheit walten. Er unterstellt ihnen die Urteilsfähigkeit, einen bestimmten Ort zu Bejahen. »Die Schwalben, die wir bei der Wiederkehr des Frühlings alle Winkel unserer Häuser durchstöbern sehn, suchen sie sich wohl ohne Urteils- und Unterscheidungsvermögen von tausend Stellen eigens jene aus, die ihnen am wohnlichsten scheint?« Die Schwalben sind Kulturfolger. Anders als anderen Wildtieren ginge es ihnen nicht besser, wenn wir uns einfach wegdenken. Es sind unsere Gemäuer, die ihnen wohnlich scheinen, und die in unserem Mist gedeihenden Insekten, die ihnen munden. Wir müssen gar nichts weiter tun. Ihre Lebensbedingungen ergeben sich quasi nebenbei aus den unseren. Dieses Verhältnis ist ein Beispiel für eine gelingende Kreislaufwirtschaft, in der verschiedene Elemente einander Regeneration gewähren. Und das nicht durch mühevolle Sorge- und Reparaturarbeit, sondern nahezu anstrengungslos. Die Schwalben teilen unsere Zeit, ohne dass wir dafür Zeit verlören. Und wir können uns an den Schwalben freuen, einfach so, ohne dass es sie etwas kostet. Diese Freiheit eines sich zwanglos perpetuierenden Zusammenspiels durchzieht die in Zeitspannen von Hunderttausenden Jahren evolutionär ausbalancierten Ökosysteme unseres Planeten. Unser Geschichtsbild ebenso wie das gegenwärtige Wirtschaftssystem sind konzipiert, als sei das ein unverbrüchlich gegebener Hintergrund. Dabei ist Fülle in Wahrheit ein fragiles Unterfangen. Es gibt sie, wo die Gezeiten gut abgestimmt sind; es gibt sie im scheinbar mühelosen Zusammenleben der Schwalben mit uns, das allein uns aber auch noch nicht satt machen würde. Absolut alle Freiheit der Zukunft – selbst noch die, einfach nur wegzukönnen – hängt davon ab, für wie viele unserer Versorgungskreisläufe es gelingt, derart regenerative Verhältnisse zu sichern. Der Anspruch auf volle Bleibefreiheit rückt diese Frage in den Mittelpunkt. Kann ich hier und frei bleiben? Können wir auf diesem Planeten leben, ohne in ständigem Terror nur mühsam seinen Katastrophen entgegenzuarbeiten, können wir hier so bleiben, dass wir auch frei bleiben, dass wir Zeit im Überfluss genießen, dass wir hinaufschauen können in einen Himmel, in dem Schwalben tanzen? Vielleicht ist die Freude der Schwalbenankunft gar nicht unsere Freude, sondern ihre. Vielleicht überträgt sich der Jubel der Schwalben auf uns. Sie besingen ihr Glück, nach beschwerlicher Reise einen Ort gefunden zu haben, an dem sie vorerst bleiben können. Wir teilen ihre Freude. Und genießen unsere eigene Freiheit.

Eva von Redecker (*1982) ist Philosophin und freie Autorin. Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und als Gastwissenschaftlerin an der Cambridge University sowie der New School for Social Research in New York tätig. 2020/2021 hatte sie ein Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiatium an der Universität von Verona inne, wo sie zur Geschichte des Eigentums forschte. Eva von Redecker beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik, schreibt Beiträge für u.a. Die ZEIT und ist regelmässig in Rundfunk- und TV-Interviews zu hören. Seit Herbst 2022 richtet sie am Schauspiel Köln die philosophische Gesprächsreihe Eva and the Apple aus. Beim S. Fischer Verlag erschienen sind zuletzt die Monographien: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen (2020) sowie ihr Buch Bleibefreiheit (2023).

Eva von Redecker

Bleibefreiheit

Im Grunde genommen weiss Natali, dass sie nicht so weiterleben will. Nicht in der Freikirche, in die sie ihrem Mann Manuel gefolgt ist, nicht in der Kleinfamilie, die sie kaum mehr atmen lässt. Doch Zeit, um nachzudenken, bleibt Natali wenig. Mit den beiden Kindern, der Teilzeitstelle an einer Schule und der künstlerischen Arbeit als Bildhauerin ist ihr Leben mehr als ausgefüllt. Hinzu kommen Verpflichtungen in der Kirche, ein Ort, in dem die ungeschriebenen Gesetze insbesondere die Lebensräume der Frauen bestimmen. Als Natali an einer Weiterbildung die freischaffende Theologin Kristin kennenlernt, gerät einiges ins Wanken. Die Begegnung löst eine Verschiebung aus, und das System, das Natali bisher gestützt hat, droht in sich zusammenzustürzen. In ihrem zweiten Roman dringt Tabea Steiner tief in die engen Strukturen einer religiösen Gemeinschaft ein und zeichnet die Zerrissenheit einer Frau nach, die in keiner der beiden Welten wirklich zu Hause sein kann.Im Folgenen Ausschnitt aus Tabea Steiners Roman Immer zwei und zwei zeigt sich die schöne Fassade einer Gemeinschaft, die getragen wird von gemeinsamen Werten. Die aber, wenn jemand diese Werte hinterfragt, ganz schnell zu einem feindseligen Gegenüber werden kann.

Tabea Steiner (*1981, Münsterlingen) hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival Literaare initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. Ihr erster Roman Balg (Edition Bücherlese, 2019) war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Mit Provinces (Strangers Press, 2022) erschien kürzlich eine Auswahl ihrer Essays in englischer Übersetzung und im Februar 2023 wurde ihr zweiter Roman Immer zwei und zwei (edition bücherlese, 2023) publiziert. Tabea Steiner lebt und arbeitet in Zürich. Sie ist Mitglied der Autorinnengruppe RAUF und unterrichtet am Departement Kunst &amp; Design der Hochschule Luzern literarisches Schreiben im Studiengang Illustration fiction.

Tabea Steiner 

Immer zwei und zwei

Wir bauen einen Raum  Wir brauchen Zeit   Wir stellen uns vor  was es alles braucht   Wir wissen genau  was es alles braucht   Eine ist die Zeit und eine ist der Raum   Wir wollen nicht mit Wänden anfangen   Wir wollen einen Boden legen  wir brauchen einen Boden   Eine von uns besitzt einen grossen Werkzeugkasten  den werden wir brauchen  den brauchen wir   Eine von uns besitzt eine Sammlung an Materialien  die sie über die Jahre angehäuft hat  Die brauchen wir   Eine von uns kennt eine  die Beton giessen kann  so dass wir ein Fundament schaffen können  wenn wir es so fest wollen   Wir wollen einen festen Boden   Wir rühren den Beton an und verteilen ihn   Als er noch feucht ist  ziehen wir unsere Schuhe aus  ziehen wir unsere Socken aus und machen vorsichtige Schritte   Wir spüren  wie weich der Beton ist   So wollen wir es   Es bleiben Abdrücke von unseren Zehen  Fussballen  Fersen   Auf die feinen Linien und Kuhlen unserer Fussflächen bauen wir auf   Wir sagen uns  es brauche nur ganz wenig   Wir sagen uns  es sei ganz leicht   Es braucht nicht schwer zu sein   Und dann ist es noch leichter  als wir anfangen zu stapeln und aufzuschichten   Wir legen zwischen jede harte Schicht eine  die nachgibt   Die Sonne übernimmt das Trocknen  unsere Lippen summen Lieder   Ein Teppich  so sagt eine  verändert alles  Wer sich immer auf weichem Untergrund bewegt  dessen Gelenke werden weicher  Die Muskeln auch  Und die Gedanken   Es braucht einen Teppich   Wir legen uns auf den Teppich   Wir liegen auf dem weichen Teppich nebeneinander   Eine sagt  dass man nicht nur da liegen könne  und eine formt mit ihren Händen ein Fernrohr  das sie aus- und einfahren kann   Eine schliesst die Augen und stellt sich vor  sie wisse von nichts   Eine sagt zu der andere: Mach die Augen auf   Eine öffnet ein Auge   Eine schliesst ein Auge   Wir halten zwei Augen geschlossen  Wir halten zwei Augen offen   Wir brauchen nicht alle vier Augen   Eine sagt: Ich bin mir nicht sicher  ob sich alles verändert hat  oder ob ich es mir einbilde  Sollte ich mich hier nicht eigentlich auskennen?  Eine von uns sagt: Ich war noch nie hier  Hier kenne ich mich nicht aus   Eine von uns verstummt und sagt dann: Manchmal überkommt mich ein komisches Gefühl  ein dunkles Gefühl  von dem ich denke  es passe überhaupt nicht hierhin  und dann will ich wegrennen  und gleichzeitig natürlich mit dir sein und weitermachen   Eine von uns sagt: Lass uns eine Runde ums Haus rennen  das es noch nicht gibt   Wir rennen eine Runde und noch eine und noch eine  jedes Mal eine andere Form   Das braucht es   Wir halten uns dabei an den Händen   Die Wand ist nun trocken und wir lassen uns erschöpft an ihr hinuntersinken  es riecht nach Lehm und süssem Schweiss   Wir hören eine Weile unseren Atemzügen zu  die sich übereinanderlegen und wieder voneinander lösen   Es hat nicht viel gebraucht   Es braucht nicht viel   Eine von uns fragt ins Atmen hinein: Wollen wir bleiben oder wollen wir alles mitnehmen können? Saskia Winkelmann (*1990 in Thun  sie/ihr) ist Autorin  DJ und Veranstalterin  Seit 2022 organisiert sie die Berner Sofalesungen  Studiert hat sie Literarisches Schreiben in Biel und Bern sowie Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien  Saskia Winkelmann erhielt 2013 den Kulturförderpreis der Stadt Thun  war 2014/2015 als Regieassistenz am Konzert Theater Bern sowie als Praktikantin beim Theaterfestival AUAWIRLEBEN tätigt und war von 2015 – 2020 Teil des Tojo Theater Kollektivs der Reitschule Bern  Im Jahr 2022 ist sie zusammen mit der Autorinnengruppe RAUF mit der performativen Lesung „Erika Burkart – eine Beschwörung“ durch die Schweiz getourt  Ihre Texte sind in diversen Literaturmagazinen  auf Bühnen und auf einem Plattencover erschienen  Im April 2023 erschien ihr erster Roman „Höhenangst“ beim Bieler Verlag die Brotsuppe  Sie lebt und arbeitet in Bern    ch" www  ch Marie Popall (*1990  Berlin  sie/ihr) ist Schauspielerin und Performerin  In ihren Arbeiten  die sich an der Grenze von Tanz  Theater und Performance bewegen  widmet sie sich Fragen zur Konstruktion von Identität und Sexualität und ergründet performativ das Verhältnis von Kraft  Gewalt und Zärtlichkeit  2012 begann sie ihr Studium an der Hochschule der Künste Bern im Bachelor Theater  das sie 2017 mit dem Master Expanded Theatre erfolgreich abschloss  Mit ihrem BA Solo Pink Shell wurde sie u a  an das ITS Festival Amsterdam eingeladen  Von 2018/19-2019/20 spielte Marie im Ensemble des Konzert Theater Bern  Seit 2016 arbeitet Marie mit Natascha Moschini in der Kollaboration Moschini/Popall  Zuletzt entstanden ihre Produktionen Soft Tissue (2019) und When mama was moth  I took bulb form (2021)  die beide an der Dampfzentrale Bern Premiere feierten  Mit Soft Tissue waren Moschini/Popall Teil des Danse &amp  Dramaturgie CH Programmes  2021 erarbeitete Marie im Rahmen des auawirleben Theaterfestivals Bern das Kurzstück From invisible State to invisible State  gemeinsam mit der Theatermacherin Francesca Lazzeri (NL)  Sie wurde als Nachwuchskünstlerin für das Residenzprogramm watch&amp talk Theaterfestival Basel (2020) von Migros-Kulturproduzent ausgewählt und für das Séminaire en Avignon von Prohelvetia (2021) 

Marie Popall ist Performerin. Saskia Winkelmann ist Schriftstellerin.Die beiden verbindet gemeinsames Arbeiten und eine Freundinnenschaft.Für diese Text haben sie ihre jeweilige Schrieb- und Bewegungs-Praxis zusammenfliessen lassen. Dabei wurden sie inspiriert von einer Improvisationsübung der Choreografin Mélanie Demers.

Wir bauen einen Raum. Wir brauchen Zeit. Wir stellen uns vor, was es alles braucht. Wir wissen genau, was es alles braucht. Eine ist die Zeit und eine ist der Raum. Wir wollen nicht mit Wänden anfangen. Wir wollen einen Boden legen, wir brauchen einen Boden. Eine von uns besitzt einen grossen Werkzeugkasten, den werden wir brauchen, den brauchen wir. Eine von uns besitzt eine Sammlung an Materialien, die sie über die Jahre angehäuft hat. Die brauchen wir. Eine von uns kennt eine, die Beton giessen kann, so dass wir ein Fundament schaffen können, wenn wir es so fest wollen. Wir wollen einen festen Boden. Wir rühren den Beton an und verteilen ihn. Als er noch feucht ist, ziehen wir unsere Schuhe aus, ziehen wir unsere Socken aus und machen vorsichtige Schritte. Wir spüren, wie weich der Beton ist. So wollen wir es. Es bleiben Abdrücke von unseren Zehen, Fussballen, Fersen. Auf die feinen Linien und Kuhlen unserer Fussflächen bauen wir auf. Wir sagen uns, es brauche nur ganz wenig. Wir sagen uns, es sei ganz leicht. Es braucht nicht schwer zu sein. Und dann ist es noch leichter, als wir anfangen zu stapeln und aufzuschichten. Wir legen zwischen jede harte Schicht eine, die nachgibt. Die Sonne übernimmt das Trocknen, unsere Lippen summen Lieder. Ein Teppich, so sagt eine, verändert alles. Wer sich immer auf weichem Untergrund bewegt, dessen Gelenke werden weicher. Die Muskeln auch. Und die Gedanken. Es braucht einen Teppich. Wir legen uns auf den Teppich. Wir liegen auf dem weichen Teppich nebeneinander. Eine sagt, dass man nicht nur da liegen könne, und eine formt mit ihren Händen ein Fernrohr, das sie aus- und einfahren kann. Eine schliesst die Augen und stellt sich vor, sie wisse von nichts. Eine sagt zu der andere: Mach die Augen auf. Eine öffnet ein Auge. Eine schliesst ein Auge. Wir halten zwei Augen geschlossen. Wir halten zwei Augen offen. Wir brauchen nicht alle vier Augen. Eine sagt: Ich bin mir nicht sicher, ob sich alles verändert hat, oder ob ich es mir einbilde. Sollte ich mich hier nicht eigentlich auskennen? Eine von uns sagt: Ich war noch nie hier. Hier kenne ich mich nicht aus. Eine von uns verstummt und sagt dann: Manchmal überkommt mich ein komisches Gefühl, ein dunkles Gefühl, von dem ich denke, es passe überhaupt nicht hierhin, und dann will ich wegrennen, und gleichzeitig natürlich mit dir sein und weitermachen. Eine von uns sagt: Lass uns eine Runde ums Haus rennen, das es noch nicht gibt. Wir rennen eine Runde und noch eine und noch eine, jedes Mal eine andere Form. Das braucht es. Wir halten uns dabei an den Händen. Die Wand ist nun trocken und wir lassen uns erschöpft an ihr hinuntersinken, es riecht nach Lehm und süssem Schweiss. Wir hören eine Weile unseren Atemzügen zu, die sich übereinanderlegen und wieder voneinander lösen. Es hat nicht viel gebraucht. Es braucht nicht viel. Eine von uns fragt ins Atmen hinein: Wollen wir bleiben oder wollen wir alles mitnehmen können?

Saskia Winkelmann (*1990 in Thun, sie/ihr) ist Autorin, DJ und Veranstalterin. Seit 2022 organisiert sie die Berner Sofalesungen. Studiert hat sie Literarisches Schreiben in Biel und Bern sowie Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Saskia Winkelmann erhielt 2013 den Kulturförderpreis der Stadt Thun, war 2014/2015 als Regieassistenz am Konzert Theater Bern sowie als Praktikantin beim Theaterfestival AUAWIRLEBEN tätigt und war von 2015 – 2020 Teil des Tojo Theater Kollektivs der Reitschule Bern. Im Jahr 2022 ist sie zusammen mit der Autorinnengruppe RAUF mit der performativen Lesung „Erika Burkart – eine Beschwörung“ durch die Schweiz getourt. Ihre Texte sind in diversen Literaturmagazinen, auf Bühnen und auf einem Plattencover erschienen. Im April 2023 erschien ihr erster Roman „Höhenangst“ beim Bieler Verlag die Brotsuppe. Sie lebt und arbeitet in Bern. <a href="https://www.saskiawinkelmann.ch" target="_blank" rel="noopener noreferrer">www.saskiawinkelmann.ch</a>

Saskia Winkelmann

Marie Popall (*1990, Berlin, sie/ihr) ist Schauspielerin und Performerin. In ihren Arbeiten, die sich an der Grenze von Tanz, Theater und Performance bewegen, widmet sie sich Fragen zur Konstruktion von Identität und Sexualität und ergründet performativ das Verhältnis von Kraft, Gewalt und Zärtlichkeit. 2012 begann sie ihr Studium an der Hochschule der Künste Bern im Bachelor Theater, das sie 2017 mit dem Master Expanded Theatre erfolgreich abschloss. Mit ihrem BA Solo Pink Shell wurde sie u.a. an das ITS Festival Amsterdam eingeladen. Von 2018/19-2019/20 spielte Marie im Ensemble des Konzert Theater Bern. Seit 2016 arbeitet Marie mit Natascha Moschini in der Kollaboration Moschini/Popall. Zuletzt entstanden ihre Produktionen Soft Tissue (2019) und When mama was moth, I took bulb form (2021), die beide an der Dampfzentrale Bern Premiere feierten. Mit Soft Tissue waren Moschini/Popall Teil des Danse &amp; Dramaturgie CH Programmes. 2021 erarbeitete Marie im Rahmen des auawirleben Theaterfestivals Bern das Kurzstück From invisible State to invisible State, gemeinsam mit der Theatermacherin Francesca Lazzeri (NL). Sie wurde als Nachwuchskünstlerin für das Residenzprogramm watch&amp;talk Theaterfestival Basel (2020) von Migros-Kulturproduzent ausgewählt und für das Séminaire en Avignon von Prohelvetia (2021).